Die meisten Menschen haben vermutlich Probleme, die Gemälde aus Picassos Spätzeit zu schätzen. Es ist ja nicht nur so, daß diese Bilder einfach schnell gemalt sind, wie Werner Spies meint; das ist beileibe nicht der Kern. Man kann mit dem Bleistift oder der Radiernadel in weniger als einer Sekunde ein Meisterwerk hinlegen. Es gibt davon eine ganze Menge im Werk Picassos, und das zeichnerische Werk des Alters zeigt ja auch, daß er immer noch im Vollbesitz seiner Möglichkeiten war.

Ich schlage zum Beispiel willkürlich den » Vernissage-Katalog 01/07 auf, der die Ausstellung in Düsseldorf (Malen gegen die Zeit) begleitet hat, und sehe auf den Seiten 40/41 eine Radierung in leichter Vergrößerung, nämlich Blatt 317 aus der Suite 347 vom 8. September 1968 (II), betitelt “Raffael und die Fornarina XXII”.

Wegen der scharfen Verfolgung der Bildrechte durch die Erben und deren Beauftragte verzichte ich hier auf eine Abbildung; wer mit den Stichworten “Picasso Fornarina xxii” eine Suchmaschine befragt, findet mehrere kleinformatige Abbildungen, die freilich nicht alle Feinheiten wiedergeben; z.B. » PICASSO ETCHINGS 1966-1971 / pix1814a_bsf.

Der Stil erinnert durchaus an die Suite Vollard aus den dreißiger Jahren. Insbesondere das Gesicht der Fornarina ist allerliebst und gemahnt von ferne an die bezaubernden Lithographien und Zeichnungen von Françoise Gilot. Zweifellos ist dieses Blatt virtuos und absolut sicher. Bei einer linearen Radierung kann man nicht 25 mal ansetzen, und auch die Zeichnungen zeigen, daß er nicht gezögert und sich nicht korrigiert hat.

Trotzdem will auch bei der Radierung keine rechte Freude aufkommen. Das liegt nicht am Thema, das freilich angesichts der prüden Zeitumstände nicht ohne Gefahr gezeigt werden konnte. Die Galerie Leiris, Picassos Händler, hatte dafür ein Sonderkabinett eingerichtet, in das nur wohlbekannte Kunden eingelassen wurden. So jedenfalls die Legendenbildung; ich weiß es besser. Von Sommer 1966 bis Herbst 1969 habe ich in Berlin studiert. In dieser Zeit, also noch zu Lebzeiten Picassos, ist in der Akademie der Künste eine Ausstellung dieser Radierungen veranstaltet worden. Die habe ich gesehen. Das Publikum schob sich dicht an dicht. Einen Katalog habe ich damals nicht gekauft, aber vor ein paar Jahren habe ich ihn antiquarisch erworben. Er ist ziemlich dünn und enthält keine der provozierenden Arbeiten. Sie waren aber ausgestellt, daran kann ich mich erinnern (online leicht zu finden; es war 1969).

Dieses Blatt ist eines diejenigen, die Anstoß erregt haben. Man sieht den Maler, den jugendlichen Raffael, von hinten. Er ist nackt, seine Hoden sind deutlich zu sehen; die drei Schlenker, die die schrumpelige Struktur der Haut des Hodensacks andeuten, sind witzig. Direkt darunter ein Sternchen aus drei Strichen, den After der Geliebten Fornarina andeutend, deren Leib von Raffael verdeckt wird, der ganz offensichtlich in sie eingedrungen ist. Ihre beiden gewaltigen Schenkel nehmen seine Hüfte in die Zange, so daß von seinem Rücken kaum noch etwas zu sehen ist. Die Arme hat er ausgebreitet und hält die Unterarme nach oben, in der linken Hand die Palette, rechts den Pinsel. Sein Gesicht blickte im Profil nach rechts. Ihre rechte Brust schaut unter seinem linken Arm hindurch, die linke Brust über seiner Schulter, und diese Brust, sein Gesicht und ihr Gesicht, das dem Betrachter frontal zugewandt ist, bilden eine Kreisstruktur.

Raffael scheint irgendwohin zu gucken, während die Fornarina ihn anschaut. In seiner frühen Zeit mit Marie-Therèse Walter hat Picasso mehrfach den Geschlechtsakt dargestellt, wobei er sich selbst oft als Minotaurus dargestellt hat, also als animalische Kraft. Dementsprechend ist Marie-Therèse ganz Hingabe, sie erlebt offensichtlich einen erschütternden Orgasmus. Davon kann bei der Fornarina keine Rede sein. Sie beobachtet Raffael interessiert, vielleicht auch liebevoll, aber sie ist keineswegs erregt. Ihre Arme sind seltsam unbeteiligt; lediglich die Beine sind engagiert, und es will mir scheinen, als engagiere sie sich, um ihm zu helfen. Aber warum legt der Idiot nicht Pinsel und Palette aus der Hand? Daß er seine Mütze aufbehält, will ich als Marotte durchgehen lassen, aber seine ganze Haltung ist total verrückt. Es sind ja nicht nur die Arme und Hände, die überhaupt nicht zur Handlung passen, es sind vor allen Dingen die Beine. Es sieht so aus, als hätte Raffael einen Anlauf genommen, um die Fornarina aufzuspießen.

Diese zentrale Handlung findet auf der rechten Hälfte des Blattes statt. Die linke Hälfte ist mit etwas eckigen Formen ausgefüllt, die vielleicht Kissen auf dem Bett andeuten sollen. Das Bettuch ist links von der Mitte angehoben. Die Karikatur eines Greises schaut heraus. Wer den alten Picasso lesen gelernt hat, soll darin Rembrandt erkennen. Es ist auf jeden Fall als die Figur eines alten Mannes zu lesen, der genau das nicht mehr machen kann, was Raffael in seinem jugendlichen Überschwang zum Besten gibt. Ganz links steht eine lange, dünne Figur, die einen Vorhang beiseitezieht und auf die Szene schaut. Darin soll man den Drucker Piero Crommelynck erkennen. Das Ganze firmiert dann auch noch als Paraphrase, nämlich auf ein Gemälde von Jean Auguste Dominique Ingres von 1814 mit dem Titel » Raffael und die Fornarina, wobei dieses Bild den Blick in ein Atelier bietet, wo der Maler mit dem Rücken zu einem Gemälde sitzt und sich umgedreht, so daß er es anschaut, während seine Geliebte, die er auf dem Schoß hat und mit beiden Armen umfängt, am Betrachter vorbei aus dem Bild herausschaut.

Nun gut, wir wissen, daß Picasso Probleme hatte, ein Thema zu finden, und sich im Alter nicht gescheut hat, das auch zuzugeben und Bilder seiner Kollegen als Sprungbrett für seine eigene Arbeit zu benutzen. Das ist meines Erachtens legitim und eher nebensächlich. Wichtig ist die Aussage des Blattes selbst. Alle sind sich einig, daß Picasso der alte Gnom ist, der unter dem Bett liegt und verwirrt und verbittert ist und leidet. Crommelynck sieht aber auch nicht so aus, als würde sich bei ihm in der Hose sehr viel regen, und dabei dürfte er einen Mann in den Vierzigern darstellen. Das sind aber nur die Nebenpersonen. Hauptdarsteller ist der junge Raffael, und genau da setzt das Unbehagen an. Dieser rammelnde Maler ist vollkommen unangemessen dargestellt. Der Kopf paßt überhaupt nicht zur Handlung, genauso wenig wie die Haltung.

Die Palette und der Pinsel sind nur verständlich, wenn er gerade gemalt hätte und sich sofort auf sie hätte stürzen müssen, ohne sein Werkzeug beiseite legen zu können - eine absurde Vorstellung. Natürlich würde er seine Geliebte in diesem Sinne als Mittel seiner Triebabfuhr benutzen, was erklären würde, warum sie so gar keinen Anteil nimmt. Aber das würde ja bedeuten, daß nicht nur sie als Modell nackt ist, sondern auch er als Maler nackt arbeitet. Zwar sind seine Extremitäten mit Parallelschraffuren überdeckt, die auf den ersten Blick vielleicht auch als Kleidung gedeutet werden könnten; da aber die Beine, der linke Arm und der Halsansatz der Fornarina ebenfalls so behandelt sind, hat diese Lesart nichts für sich.

Die schwächste Stelle ist das Gesicht Raffaels. Es ist in einem Zuge im Profil gezeichnet, ein klassisches Profil, und man fragt sich, warum es so ausdruckslos ist, so hohl, so nichtssagend, so unangemessen. Das Gesicht der Fornarina ist berückend, und gerade der Kontrast zwischen ihrem Gesicht und seinem Gesicht springt den Betrachter immer wieder an und weist auf die Tragödie hin. Dieser Maler hat nichts mit seiner Geliebten zu tun. Das war natürlich beim Minotaurus auch schon so, aber es fiel nicht so auf, weil man diesem Mischwesen gar nicht zutraute, eine Beziehung zu einem Menschen, zu seiner Geliebten aufnehmen zu können. Und wenn es einem auffiel, hat man es gleich entschuldigt, weil der Minotaurus ja ein Mischwesen ist und seine tierische Struktur eine personale Beziehung gar nicht zuläßt.

Am schlimmsten ist allerdings die Unreife des jungen Malers. Es ist die Karikatur eines jungen Mannes, eines Menschen, der noch gar nichts erlebt hat, der keine Tiefe besitzt, und zwar viel weniger, als normal ist. Raffael war zu diesem Zeitpunkt schon ein gefeierter Maler, und so stellt Ingres ihn dar. Zwar ist er jung, aber er ist repräsentativ angezogen, ein erfolgreicher Künstler kurz vor dem Zenit seines Ruhms. Er schmückt sich mit seiner Geliebten, die natürlich ebenso prächtig und kostbar angezogen ist. Dieser Raffael weiß, wer er ist und was er erreicht hat, was ihm zusteht. Er strahlt seine Würde geradezu aus. Picassos Raffael hat keine Würde, er hat keine Persönlichkeit, er ist überhaupt keine Person, sondern ein Hampelmann. Der Maler ist reduziert auf den Ficker. Welch ein Entsetzen!