Es ist also das Rätsel der Kreativität, das mich umtreibt. » Sigmund Freud interessierte sich dafür, » C. G. Jung und viele andere, aber herausbekommen haben sie wenig. Freud meinte etwas über die Kreativität sagen zu können, indem er sich mit » Leonardo beschäftigte und dessen Geier-Traum analysierte, aber mehr als eine Anekdote kam dabei nicht heraus (» Anna Selbdritt, » Das geheime Leben des Leonardo da Vinci). C. G. Jung pflegte sehr ausgeprägte Träume zu haben und malte diese und führte die Technik des Malens von Träumen in seine Analytische Psychologie ein, aber ich wüßte nicht, daß dabei jemals ein Kunstwerk entstanden wäre. Die Bilder von Jung haben etwas ähnlich Dilettantisches und zutiefst Unbefriedigendes wie die von » Hermann Hesse.

Berühmt sind die Thesen des Gestaltpsychologen » Rudolf Arnheim, der in seiner Untersuchung des Entstehungsprozesses von » Guernica meinte herausfinden zu können, wie Kreativität sich vollzieht. Glücklicherweise fertigte » Picasso viele Studien an, seine Freundin » Dora Maar hielt einzelne Phasen fotografisch fest. Hat Arnheim etwas über die Kreativität herausgefunden? Ich hatte nicht den Eindruck. Er ließ sich durch Picassos Arbeitsweise inspirieren und meinte, dieser habe die Lösung durch Versuch und Irrtum gefunden, durch systematisches Testen von Bildideen, durch provozierende Überschreitungen des Gewohnten. Diese Untersuchung entstand Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und wird immer wieder neu aufgelegt, seither sind fast fünfzig Jahre vergangen. Die Kreativitätsforschung tappt immer noch im Dunkeln.

Picasso selber hegte die Vorstellung, daß man der Kreativität eines Tages auf die Schliche kommen werde. Deshalb begann er in den dreißiger Jahren, alles genau zu datieren. Wenn er mehrere Arbeiten am selben Tag vollendete, setzte er römische Ziffern hinzu. Das gefiel mir sehr gut, und deshalb habe ich dieses System Anfang der siebziger Jahre übernommen. Als ich Anfang der 80er ein Werkverzeichnis anlegte, half mir diese Datierung sehr. Interessanterweise stellte sich heraus, daß mein Gedächtnis mich im Stich gelassen hatte. Die Entwicklung vollzog sich viel sprunghafter, als ich das in Erinnerung hatte.

Natürlich mußte ich ebenfalls in die Falle laufen, der Kreativität auf die Schliche kommen zu wollen. Das war eine sehr schmerzhafte Erfahrung, und merkwürdigerweise war es ein Traum, der mir die Augen öffnete. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Die heutige Kreativitätsforschung geht, wenn ich das richtig sehe, davon aus, daß das Gehirn eine Art Maschine ist, in der alle möglichen Gefühle und Erlebnisse und Erkenntnisse und Eindrücke abgelegt sind. Kreativität entsteht demnach dann, wenn aus diesen Rohmaterialien durch ungewöhnliche Assoziationen neue Zusammenhänge entstehen. Daher leiten sich aus dieser Vorstellung entsprechende Techniken ab, etwa » Brainstorming. Merkwürdig nur, daß so wenig Kreatives dabei entsteht. Wenn die Forscher genauer hinschauen würden, kämen sie nicht auf die Idee, so etwas Primitives zu verkünden. Es gibt genug Zeugnisse auch von Wissenschaftlern, die belegen, daß Kreativität eben gerade nicht so entsteht, sondern vielmehr von irgendwo anders her, ganz plötzlich, dem angeblich Kreativen als etwas Fremdes gegenübertritt.

Die Skizzen Picassos tragen das ihre dazu bei, diese Vorstellung zu untermauern. Denn ganz offensichtlich hat Picasso immer wieder versucht, sich selbst zu überraschen, indem er ganz bewußt neue Wege gegangen ist. Das kann man zum Beispiel an den Skizzen zu Guernica sehen, wenn er etwa ein zusammenbrechendes Pferd naturalistisch zeichnet und im nächsten Augenblick eine primitive Gerüstskizze eines Pferdes hinlegt, die eines Vierjährigen würdig wäre. Oder er zeichnet ein ganzes Blatt voller Augen, wobei er ständig kleine Variationen vornimmt, in der Hoffnung, auf diese Weise eine perfekte Form zu finden. Klappt natürlich nicht, es bleiben banale Fingerübungen, beeindruckend, weil sie zeigen, daß auch ein Genie arbeitet, aber nicht, weil sie die Kreativität zum Vorschein bringen, im Gegenteil. Sie zeigen, daß man auf diese Weise eben gerade nicht kreativ wird.

Bestenfalls ist das eine Technik, die kreative Hemmung zu überwinden, und das, was danach kommt, ist die Kreativität. Der Cellist » Yo-Yo Ma erklärt in dem Video » YO-YO MA ganz verblüfft, wie er vom Sänger » Bobby McFerrin gelernt hat, die Kreativität, vor allem auf der Bühne, fließen zu lassen, indem man eben nicht verbissen dem sich Entziehenden mit allen Mitteln der mühsam erworbenen Kunst hinterherjagt, sondern sich völlig entspannt und seinen Willen vollständig zurücknimmt, sich einfach als Werkzeug (wem?) zur Verfügung stellt. Genau, alle Welt ist hinter diesem kostbaren Gut her, das auch den Künstlern nicht nach Belieben zur Verfügung steht. Und auch wenn Bobby McFerrin von Yo-Yo Ma als Meister der Kreativität hingestellt wird - Vieles von ihm ist nicht besonders inspiriert, sondern ganz offensichtlich Routine und bloße Kunstfertigkeit - was natürlich auch ihm selbst nicht verborgen bleibt, denn dieses Wissen drückt sich ganz deutlich in seiner Körperhaltung und Mimik aus.

Die Vorstellung, die Picasso vor der Kamera gegeben hat, zeugt überhaupt nicht von Kreativität (» LE MYSTÈRE PICASSO - Trailer, » El misterio Picasso (Henri-Georges Clouzot)), sondern von Geltungsbedürfnis. Es ist der kleine Junge, der sich produziert, das Wunderkind, das bewundert werden will, und gerade weil die Kameraleute und der Regisseur und mit ihnen die ganze Welt gespannt auf das Genie schauen, ist er blockiert und bietet eine ganz erbärmliche Vorstellung, die erschreckende Karikatur eines Künstlers, die Zurschaustellung eines mittelmäßigen Handwerkers, der aus seiner bunten Trickkiste wahllos abgegriffene Ideen zusammenstoppelt, der mit billigen Mätzchen versucht, über seine fürchterliche Verlegenheit hinwegzutäuschen, der seine banalen Peinlichkeiten übermalt, damit er sich nicht weiter dafür schämen muß - man spürt nämlich ganz deutlich, daß er sich schämt, als er linkisch sein “finis” verkündet. So erklärt sich vielleicht auch seine abstruse These von der permanenten Zerstörung, die er » Françoise Gilot vorgetragen hat. Er mußte permanent zerstören, wenn alles Mist war, was er zustandegebracht hatte, bis er schließlich die Lust verlor und das Werk für vollendet erklärte.

Ich fürchte, Picasso wußte gar nicht, was Kreativität ist, wann sich die Kreativität bei ihm Bahn brach. Denn daß er zuweilen extrem kreativ war, steht außer Frage. Zumindest hat er sich keine Rechenschaft darüber abgelegt, daß nicht alle seine Werke gleich gut sind, und sich nie die Frage gestellt, warum das so ist. Laut » Werner Spies hat Picasso im Gegenteil ausdrücklich darauf bestanden, daß alles gleich gut und gleich wichtig ist, was er geschaffen hat, und sich den genannten Fragen ganz bewußt und vehement verschlossen. Zwar vertrat » Arno Schmidt die Meinung, daß auch der letzte Schmierzettel des Genies viel wichtiger ist als das Meisterwerk des Minderbegabten, aber soweit ich mich erinnere, nicht etwa aus dem Grunde, daß der Schmierzettel als Kunstwerk wichtiger wäre, sondern um das Geheimnis des Genies ergründen zu können. Für Schmidt war nur das Genie interessant, der Rest zählte nicht. Das finde ich nicht verwunderlich, sondern eher normal; so geht es vermutlich fast allen Menschen. Schmidt zufolge ist natürlich auch die geringste Randbemerkung Picassos wichtig, aber nicht etwa, weil es sich um ein bedeutendes Werk handelte, sondern weil sie vielleicht verstehen hilft, wer Picasso war und was er gemacht hat.

In meiner Malerei tritt die Kreativität natürlich besonders zum Vorschein, aber ich habe auch zu bestimmten Gelegenheiten einige Gedichte geschrieben und einmal in meinem Leben sogar komponiert. Die Gedichte entstanden immer in emotional angespannten Situationen. Es sind intime Liebesgedichte, adressiert an die verlorene Geliebte, ergreifende Schmerzgedichte, sie bringen inhaltlich nichts Neues zum Vorschein, sondern drücken “lediglich” Bekanntes sehr kurz und treffend in einer Gedichtform aus. Das ist bei der Kunst anders. Da offenbart sich durchweg Unbekanntes.

Bei der Musik ist es insofern ganz verblüffend, weil ich überhaupt nichts von Musiktheorie verstehe und auch nie etwas verstehen werde, denn innerlich sträubt sich alles dagegen, aber ich kann gut hören. Unter den vielen Tausend Noten ist keine einzige falsche, die Musik ist extrem vielfältig, interessant und merkwürdigerweise enorm vital und lebensfroh, ganz im Gegensatz zu den Bildern, die oftmals melancholisch und depressiv wirken. Wie ist es möglich, daß ich diese Musik habe schreiben können? Ich habe keine Ahnung. Es ist wie bei der Kunst, wo der Trick ja auch gerade darin besteht, sich leer zu machen und ohne Netz ins Ungewisse zu stürzen. Wie sagte » Miles Davis anläßlich der Aufnahmen zu » In a Silent Way zum virtuosen Gitarristen » John McLaughlin? “Spiel, als ob du noch nie Gitarre gespielt hättest.” Wie macht man das als Virtuose? Mit Virtuosität kann ich in der Musik jedenfalls nicht aufwarten, also stellt sich das Problem, diese über Bord zu werfen, erst gar nicht. Eines Tages habe ich mit einer Komposition angefangen, war dann mitten drin, und schließlich war das Stück fertig. Dann habe ich das nächste begonnen. Gedacht habe ich mir dabei nichts, aber viel Spaß gehabt. Es sind sechs sehr individuelle Stücke geworden, jedes etwa 5 Minuten lang. Ein fiktives Jazz-Quartet spielt (Joe Chef, Paul Pic, Rem Brandt, Max Beck), normalerweise in der Besetzung Tenorsaxophon, Piano, Bass, Drums, aber sie sind alle Multiinstrumentalisten und machen davon auch Gebrauch.

Im Interview » Francis Bacon - Documentary erklärt Bacon wunderbar offen, wie sein bekanntestes und vielleicht auch bestes Gemälde entstand. Es ging alles ganz schnell. Er hatte etwas anderes vor, irgendwie lief irgendwo Farbe runter, und dann entstand das Gemälde einfach, er weiß nicht, wie und warum. Da haben wir es! Er hat es gemerkt. Aber er hat leider keine Schlüsse daraus gezogen. Schade.