Tue 31 Jan 2006
Ich wußte einfach nicht, was ich darüber denken sollte. Aber ich hatte vermutlich nicht viel Zeit, nachzudenken, denn ich glaube nicht, daß es jemals eine meiner Wände geziert hat. Es ist schon vor langer Zeit in Privatbesitz übergegangen; ich hatte das Bild infolgedessen fast vergessen.
Als ich das Dia heute Abend eingescannt habe, war ich deshalb gespannt auf meine Reaktion. Ich wußte nämlich immer noch nicht, ob ich es mag oder zumindest schätze.
Zunächst hatte ich Schwierigkeiten, einen Ausschnitt für die heutige Betrachtung zu bestimmen. Bisher habe ich immer die zentrale Figur genommen. Aber das war hier nicht einfach, weil ich mich nicht entscheiden konnte, welche Figur zentral sein sollte. Während ich noch darüber nachdachte, dämmerte mir, daß ich vielleicht nicht eine bestimmte Partie aussuchen und darüber schreiben sollte wie bisher, sondern statt dessen mehrere, und so fing ich also an der linken oberen Ecke an.
Dies ist einer von drei Köpfen, die ungefähr gleichgroß sind. Es gibt sieben andere, die deutlich kleiner sind, aber ebenfalls ungefähr dieselbe Größe haben. Da dieser Kopf ganz oben links am Rand sitzt, ist er kein guter Kandidat für eine zentrale Figur, aber er schien doch ein guter Einstieg zu sein. Also nahm ich ihn als ersten Ausschnitt, und je mehr ich anfertigte, desto faszinierter wurde ich.
Dabei wurde mir zum Beispiel klar, daß die Qualität dieses Bildes ziemlich gleichmäßig ist. Alle Teile scheinen von derselben Qualität zu sein, und das ist gar nicht so üblich, wie man denken könnte. Diese Einsicht war mir zwar nicht neu, aber ich hatte sie ebenfalls vergessen.
Man sieht die ungleiche Verteilung der malerischen Qualität beispielsweise recht häufig bei Picasso, und könnte daher mutmaßen, daß das Phänomen mit Moderner Kunst zusammenhängt, weil diese oft nachlässig und unfertig zu sein scheint, als Produkt eines Genies, das an einer endgültigen Ausarbeitung, wie sie kleineren Talenten anstehen mag, nicht interessiert ist. Selbst in den klassischen Perioden hat Picasso oft Partien freigelassen und damit durchaus starke Effekte erzielt.
Aber das ist nicht der Fall. Es scheint eher mit dem Maler zusammenzuhängen. Einer der größten klassischen Meister, Rembrandt, zeigt diese Ungleichmäßigkeit sogar ziemlich häufig. Nicht nur sind manche Teile eines Gemäldes brillanter als andere, es gibt sogar Teile, die ziemlich schlecht sind und geradezu vernachlässigt wurden. Ich habe nie versucht, einen Rembrandt zu kopieren, aber immerhin einen großen Picasso und konnte deshalb die Ungleichmäßigkeit in diesem Gemälde nicht übersehen. Das Gesicht der Frau war stark bearbeitet, der Körper schon wesentlich weniger, und die Extremitäten und das Bett und der Raum waren einfach nachlässige, enttäuschende Entwürfe, mehr nicht.
Nun muß ich mich nicht disziplinieren, um eine gleichmäßige Qualität auf jedem Quadratzentimeter des Bildes zu erreichen, es ergibt sich einfach so. Ich scheine ein Maler zu sein, der natürlicherweise so malt. Und ich wette, Sie können das sehen. Ich habe es jedenfalls gesehen, als ich die Ausschnitte zusammengestellt habe, und ich habe alle diese Erfindungen sehr genossen. Der heutige Kopf ist ziemlich grünlich, scheint ein rotes Kopftuch zu tragen, das möglicherweise durch eine große, gelbe Blume mit vier großen Blütenblättern, von denen drei sichtbar sind, geschmückt ist.
Es ist eigentlich ziemlich bemerkenswert, daß dieser Kopf als solcher unmißverständlich gelesen werden kann, obwohl er mit ziemlicher Freiheit gezeichnet ist. Es gibt zum Beispiel so gut wie keinen Schädel, dafür ist fast alles Gesicht. Trotzdem strahlt dieser Kopf die extreme Präsenz der Person, die er bezeichnet, aus. Eine Menge kühner Erfindungen kennzeichnen Einzelheiten wie Augen, Lippen, Nase, Wangen. Diese Person ruht ziemlich in sich selbst, schaut eher nach innen und scheint nicht besonders an der ganzen Szenerie interessiert zu sein, was schon an diesem Ausschnitt klar wird, obwohl wir noch nichts vom Rest sehen. Außerdem scheint diese Person ziemlich viel zu wissen, insbesondere scheint sie zu wissen, was wirklich wichtig ist im Leben. Und sie scheint bekümmert zu sein.
Je mehr ich mir diesen Ausschnitt anschaute, desto mehr erfreuten mich die Farben und Formen. Es ist offensichtlich, daß nichts konstruiert ist. Man kann ein solches Gemälde nicht konstruieren. Ich schätze, das ist es, was man mit dem Wort Gemälde ausdrücken möchte. Ein Gemälde als Produkt und Übung, Malen als Produktionsmethode, erschaffen durch der Hände Arbeit, kontrolliert durch das Auge und das Gefühl und die Hand, wobei der Intellekt, der Verstand und das Gehirn ausgeblendet sind. Das ist kein Hirnwerk, es ist ein Kunstwerk, ein Meisterwerk dazu. Gefällt mir sehr.
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