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Der Zugang zur Kunst

Rede Witten 16.3.1984, Café Harlekin







Sehr geehrte Damen und Herren,



Sie sehen sich heute abend mit einigen wenigen meiner Bilder konfrontiert, und es wäre verwunderlich, wenn Sie sofort Zugang dazu finden würden. Denn ich selbst brauche immer einige Zeit, bis ich ein neues Bild voll genießen kann.



Dabei habe ich Ihnen zweierlei voraus: ich kenne alle Bilder, also die Entwicklung, den Werkzusammenhang, und ich habe die Bilder selbst gemalt.



Solange ich aber an einem Bild arbeite, verändert es sich ständig; ich bin zwar in dem Bild, kann aber keinen festen Bezug dazu finden. Wenn der letzte Pinselstrich getan ist, bin ich natürlich ganz erfüllt, aber dann setzt etwas Neues ein: das Bild beginnt sein Eigenleben zu führen. Erst wenn ich es aufhänge und damit lebe, eröffnet sich der Zugang zu dem fertigen Bild - der Entstehungsprozeß ist vergessen, die Botschaft beginnt zu wirken.



Die geschilderten Anfangsschwierigkeiten beziehen sich übrigens nicht nur auf neue Bilder: dasselbe spielt sich bei jedem Umhängen ab, ein völlig neues Wohngefühl entsteht zuerst, dann, in einer ruhigen Minute, in der der Blick unversehens auf einem neu aufgehängten Bild verweilt, gehen mir die Augen auf, und ich sehe und fühle seine Größe und Schönheit.



Diese Begriffe mögen etwas altmodisch klingen, aber das ist mir gerade recht. Kunst und Malerei sind ja heute nichts grundsätzlich anderes als vor hundert, dreihundert oder dreitausend Jahren. Soweit Kunst relevant ist, ist sie verankert im Persönlichkeitskern des Schöpfers und in der Gegenwart mit deutlichem Bezug auf die Zukunft.



Der weisende Charakter der Kunst ist oft beschworen worden - wesentlich ist aber, daß Kunst in der jeweiligen Gegenwart lebt. Da Menschen häufig in der Vergangenheit leben, finden sie zur Gegenwartskunst schlecht Zugang. Aber auch Kunst vergangener Zeiten muß unmittelbar und direkt genossen werden, sonst ist sie verloren. Nostalgie in jeder Form ist der Tod der Kunst.



Deshalb stellt sich immer das Problem, sich den Zugang zur Kunst zu erschließen. Wer sein Auge und Gefühl schulen möchte, halte sich an das Beste und Größte, das ihm je erreichbar ist. Wenn Sie Feinschmecker werden wollen, sollten sie um McDonalds einen Bogen machen, es sei denn, Sie wollten kurz antesten, wie stark das Gefühl von Übelkeit schon ist, das Sie bei Hamburgers mit Cola befällt.



Der Weg zur Selbstentwicklung, den ich Ihnen ans Herz legen will, wird Ihnen nicht erspart bleiben. Sie können und müssen sich zunächst auf das Urteil anderer verlassen, um überhaupt relevante Erfahrungen machen zu können. Mit der Zeit wird Ihr eigenes Gefühl erstarken, so daß Sie diese Hilfe weniger brauchen, sogar teilweise auf Distanz gehen können, und so sich selbst in Ihrer Eigenart und Einmaligkeit erfahren.



Der Künstler geht seinen Weg als Mensch und produziert dabei Bilder, die anderen auf ihrem Weg helfen können. Der eine macht Banales, Dekoratives, Hübsches, Oberflächliches, etc., der andere Tiefliegendes, Schönes, Starkes, Aufregendes, Großes, das Spektrum reicht von Weltkunst bis Edelkitsch, und der Betrachter hat die Wahl, welchen Weges er sich bedienen will: Jedem das Seine.



Jeder Aufbruch, jede Veränderung verursacht Angst und erfordert Mut - für den Künstler gilt das ebenso wie für den Kunstfreund. Ich erfahre häufig, daß Menschen einen Zugang zu einzelnen meiner Werke spontan erleben, etwas Bestimmtes in ihnen findet sich zum Ausdruck gebracht, sie fühlen sich erregt, verlebendigt, erfüllt.



Gleichzeitig spüren sie aber auch die Angst vor dem Neuen, das sich da für sie auftut, und Bedenken werden formuliert: Da sind Bilder zu groß für die Wohnung, Farben zu schrill für die Umgebung, überhaupt die Wirkung zu stark für das erfahrene Lebensgefühl. Nach dem Motto also: Veränderung - ja bitte. Aber so, daß alles beim Alten bleibt!



Aus diesem Dilemma kann man sich nur befreien, indem man es sich bewußt macht und sich für eine der beiden Möglichkeiten entscheidet.



Der Bezug zur Entwicklung des Individuums, gleich welchen Geschlechts oder Alters, ist in meinen Bildern oft unübersehbar, stets aber im Vordergrund, wie aus dem Werkzusammenhang eindeutig hervorgeht. Die Fülle der Figuren ist vielleicht zu verstehen einerseits als Aufspaltung verschiedener Persönlichkeitsaspekte, etwa weiblicher und männlicher, andererseits als Darstellung größerer Zusammenhänge, etwa wenn Gestalten im Bild auftauchen, die offensichtlich nicht menschlich sind, weil sie z.B. eine blaue Gesichtsfarbe oder dreimal so große Gesichter haben.



Die Abenteuerfahrt des Helden auf dem Wege zur Menschwerdung ist weniger eine Angelegenheit der Parsivals, Siegfrieds oder wie sie alle heißen als vielmehr die eines jeden von uns, Hans, Liese, Rolf und Bärbel, wir alle sind als Menschen mit der Aufgabe konfrontiert, und zu entwickeln und zu reifen. Manche Einer erkennt erst auf dem Totenbett, wie er sein Leben vertan hat - dann allerdings dürfte es für einen Beginn zu spät sein.



Große Persönlichkeiten wie Goethe oder Rembrandt sind diesen Weg der Entwicklung und Reife weit gegangen. Ihre Bedeutung liegt in ihrem Vorbildcharakter und der Kraft ihrer Werke, andere mitzureißen. Diese Funktion hat die Kunst auch heute noch, wie sollte es auch anders sein? Die dargelegten Zusammenhänge sind allerdings heute eher unbekannter als ehedem - ein weiteres Zeichen für die Verrohung der Zeit.



Nur langsam setzt sich die Einsicht durch, daß Veränderung dringend not tut, wenn es nicht schon zu spät ist. Alle von außen kommenden Reformen und Revolutionen haben die Situation nicht beeinflussen können. Ein innerer Wandel, von einsamen Rufern wie Hermann Hesse seit langem gepredigt, beginnt in unserer Generation sich abzuzeichnen in einer Weise, daß von einem Umsturz aller Werte die Rede ist, umwälzender als je in der überlieferten Geschichte, die Renaissance eingeschlossen.



Mit dieser Strömung fühle ich mich in meiner Arbeit tief verbunden, und ich denke, nicht nur rein kunstimmanent, sondern auch gesellschaftspolitisch viel beitragen zu können.



Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.



 




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