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Es könnte auf diese Weise allerdings meine Verzweiflung darüber zum Ausdruck gekommen sein, dass sich das zweite Jahr meines Promotionsstipendiums dem Ende zuneigte, ohne dass ich bisher mit einem konkreten Resultat hätte aufwarten können. *
Der Bildträger ist viel größer als bei Nummer 35, der Ausschnitt aber ganz ähnlich. Allerdings ist der Blick hier von unten statt von oben; man sieht also nicht, worüber sich der Kerl die Haare rauft. Oder er stützt er sich einfach nur den Kopf ab?
Jedenfalls blickt er nicht in sich hinein wie Erika, sondern stiert auf das Blatt, als könnte er dort die Lösung finden, als müsste sie durch angestrengte Betrachtung gefunden werden.
So ähnelt er mehr einem Naturwissenschaftler oder Experimentator, der einen konkreten Gegenstand, ein Lebewesen oder einen Versuchsaufbau vor sich hat als einem Mathematiker, für den das Papier und die Zeichen darauf letzten Endes nur Hilfsmittel sind, weil sich die Mathematik im Kopf abspielt. In den Zeichen selbst ist das Geheimnis nicht verborgen.
Der ganze Raum scheint im Dunkeln zu liegen, der Typ ist von vorne beleuchtet. Sein verschlossener Mund und die Augen sind schon alleine durch die Farbe hervorgehoben; sehr auffällig und eigenartig die moderne Armbanduhr, eine moderne Zutat, die man in einem Gemälde nicht erwartet.
Nun könnte man ja annehmen, dass hier eine große Tragödie inszeniert wird, aber ich finde das Bild, genauso wie das › vorige, einfach nur komisch. Es ist ein fantastischer Humor, der da zum Ausdruck kommt und der sofort offensichtlich wird, wenn man die beiden Bilder miteinander vergleicht.
Was aber konnte mir dieses Bild erzählen? Was wurde darin deutlich? Was habe ich nicht verstanden? Die Mathematik machte mich nicht glücklich. Ich habe es damit relativ weit gebracht, aber meine Seele ist verdorrt. Der mit dem Symbol für die große Unbekannte verschlossenen Mund, dessen Linien so exakt gerade gezogen sind, dass sie keinerlei Seelenregung zum Ausdruck bringen können, ist der große Stopper. Alle anderen Linien wirbeln herum, selbst der Tisch scheint lebendig, die Augen rollen sich spiralig ein, als braute sich da oben etwas ganz fürchterlich zusammen.
Je länger ich mich mit dem Bild beschäftige, desto besser gefällt es mir. Das lässt mich aufhorchen. Sollte ich anderen Bildern gegenüber nicht genug Geduld aufgebracht haben? Den Schmierereien Picassos beispielsweise?
Sofort bin ich bereit, mir selbst die Schuld zu geben und mache mich mit dem Gedanken vertraut, mich mit solchen Sachen näher zu beschäftigen - bis mir schließlich einfällt, dass ich das ja gerade zur Genüge getan habe. Ich habe mich wirklich sehr viel mit seinen Bildern beschäftigt, viel mehr als mit meinen eigenen. Und je mehr ich das tat und je besser ich sie kennenlernte, desto weniger gefielen sie mir. In dieser Hinsicht habe ich keinen Nachholbedarf.
Da fällt mir ein halbwegs brauchbares Gemälde ein, das ich aus einem Buch gut kannte, und dem ich unversehens in einem Museum, es war wohl Amsterdam, gegenüberstand. So ein Museum ist ja voll von hervorragenden Kunstwerken, und trotzdem kommt es vor, dass das eine oder andere Bild einen überwältigt. So ging es mir mit dem Picasso. Es war ein starker Eindruck. Aber trotzdem ist es ein schwaches Bild. Und das wird sehr deutlich, wenn man sich länger damit beschäftigt, starker Ersteindruck hin oder her.
Es handelt sich um » Femme nue devant le jardin, 29.-31.08.1956, 130x162cm, Stedelijk Museum, Amsterdam. Nun darf man beim direkten Vergleich natürlich nicht unfair sein - dies ist die Nummer 80 in meinem Werkverzeichnis, ich bin ein Spätentwickler, Anfänger und Autodidakt, Picasso war zu diesem Zeitpunkt schon 75 und hatte sein Leben lang aus dem Vollen geschöpft, auch materiell, während ich sparen musste. Es ist überhaupt erstaunlich, dass man beide Bilder nebeneinander halten können sollte.
Kann man wirklich? Das müsste man doch ausprobieren können!
Bei der Konfrontation, wie sie jetzt ist, als Illustration zum Text, haben wir ein Ungleichgewicht. Der Picasso ist ohne, mein Bild mit Rahmen. Beide sind gleich breit, also ist mein Bild kleiner, weil ja noch der Rahmen dazukommt. Beide Bilder nebeneinander wirken auch ganz anders als über die Distanz, noch dazu im Verein mit dem dritten Bild.
Also müssen beide „nebeneinander gehängt“ werden. Aber auch da stellt sich die Frage: Welches kommt auf welche Seite? Man muss also beides probieren. Gesagt, getan. Das ist das Ergebnis:
Es bliebe also noch zu überprüfen, wie die beiden Bilder sich im wahren Größenverhältnis zueinander verhalten. So bin ich mit dem Vergleich aber schon sehr zufrieden: Mein Bild schlägt sich tapfer. Es ist zwar auch nicht sehr bedeutsam, kann aber mit dem Picasso durchaus mithalten.
Sehr interessant zu sehen, welche Wirkungen der Rahmen auf das Bild hat. Zunächst wirkte der Hintergrund ja mehr als Rahmen, als gemeinsamer Rahmen, mit den wirklichen Größenverhältnissen entstand dann ein Wandeindruck, und als ich den Hintergrund dann immer mehr vergrößerte verstärkte sich der Wandcharakter, und mit dem gerahmten Bild war die Wand dann definitiv gesetzt, auch ohne Schatten.
Diese blauen Rahmen gefallen mir aber überhaupt nicht. Das könnte viel besser sein. Zu dieser Zeit Anfang und Mitte der Siebzigerjahre bin ich oft in der Kunsthalle Bielefeld gewesen und habe sehr genau die Rahmen studiert. Die hatten wunderbare Rahmen, jedes Bild hatte seinen eigenen, viele davon ganz einfach gestaltet, aber mit viel Patina. Das hat mir gut gefallen. Zu einem Rahmenkünstler habe ich es aber nie gebracht. Meine Bilder sind fast immer nur schwarz gerahmt worden.
Nun fehlt nur noch die Möblierung.
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Da das Picasso Project seit spätestens 24.01.2011 gesperrt ist, führt ein direkter Link nicht mehr zum Ziel; daher bin ich gezwungen, die erwähnten Werke hier zu reproduzieren und berufe mich dabei auf » Fair Use bzw. das » Zitatrecht.