Nun habe ich ja gestern eine Menge Bildwerke kranker Menschen gesehen, und eine gewisse Ähnlichkeit oder Affinität zu solchen Sachen hat das Bildchen schon. Andererseits kritzeln viele Leute beim Telefonieren vor sich hin und produzieren dabei vielleicht ähnliche Sachen. Meine Telefonkritzeleien sehen völlig anders aus und haben überhaupt keinen Kunstwert.
Nun gut: Das ist ein Kopf. Da sind zwei Augen, eine Nase, ein Mund, wenn man so will. Man kann Haare entdecken und auch eine Blume im Haar, also soll es sich wohl um eine Frau handeln. Der Mund ist offen.
Mund, Nase und Augen sind am auffälligsten. Das rechte Auge ist als Spirale ausgebildet und fällt am meisten auf, das andere sieht eher wie eine dreidimensionale Struktur aus, erinnert ein bisschen an ein Schneckenhaus oder eine technische Struktur. Die Iris ist bei beiden Augen gleich gestaltet, hat allerdings andere Farben.
Bei der Nase weiß man nun gar nicht, was man davon halten soll. Ist das ein kleines Boot, das auf der Seite liegt und in das man hineinschauen kann? Der Mund ist vollends unverständlich, was vor allen Dingen an dem eigenartigen Anhängsel links liegt. Der Mund selbst hat etwas fischartiges, das Anhängsel wirkt am ehesten wie ein extrem kurzer, dicker Wurm oder eine Made. Ekelhaft.
Nase und Anhängsel könnten mit einiger Gewalt als Sexualsymbole gedeutet werden, aber überzeugend ist dieser Ansatz nicht. Zurück bleibt ein Gefühl der Befremdung. Hier scheint etwas gewaltsam konstruiert worden zu sein, was ich aber definitiv abstreiten kann. Diese Zeichnung hat sich mit Sicherheit spontan entwickelt. Da sie mit Tusche ausgeführt ist, muss jeder Strich sofort gesessen haben.
Die Kombination diverser Gegenstände zu einem neuen Ganzen, vorzugsweise einem Gesicht, wurde schon von » Arcimboldo perfektioniert, ist also keine Erfindung des » Surrealismus.
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Kunsthistoriker stellen sich die Frage, warum bestimmte Bildungen in bestimmten Zeiten auftreten. Arcimboldo beispielsweise wird dem » Manierismus zugeordnet, einer Zeit, in der die technischen Möglichkeiten sehr weit entwickelt waren und die Mode Übertreibungen förderte. Solche extremen Entwicklungen halten sich meistens nicht lange, Neuigkeitswert und Überraschungseffekt nutzen sich schnell ab. Arcimboldo muss man einmal gesehen haben, aber das reicht dann auch. Kunst ist etwas anderes. Das ist » Kunstgewerbe.
Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Hässlichkeit gefeiert, Abstrusitäten gesucht, Widerwärtiges ästhetisiert. Warum ist das so? Warum ist das schon so lange so? Warum ist da noch kein Ende abzusehen? Wird das dann automatisch Kunst?
Picasso ist in dieser Hinsicht unermüdlich tätig gewesen und hat immer wieder systematisch untersucht, wie man beispielsweise Gesichter durch Verhäßlichung und willkürliche Montage produzieren kann. Davon wusste ich damals allerdings noch nichts, denn ich hatte ja nur die wenigen billigen Bücher - ein systematischer Zugang zu seinem Gesamtschaffen wurde Laien wie mir ja erst durch das On-line Picasso Project möglich. Zwar habe ich auch ein paar Mal die Präsenzbibliothek der Kunsthalle Bielefeld benutzt, die den Zervos-Katalog besaß, und diesen auch einmal zu Rate gezogen, weil ich auf ein ganz bestimmtes Bild hingewiesen worden war, aber das muss später gewesen sein, diese Zeichnung lässt sich vermutlich nicht direkt auf Picasso zurückführen. Sie wird aber trotzdem seinem Einfluss zu verdanken sein.
Außerdem bin ich sicher auch Kind meiner Zeit und deshalb vielleicht gar nicht in der Lage, etwas anderes als Hässlichkeit zu produzieren. Oder könnte es sein, dass auch das Hässliche eine besondere Art Schönheit hat, die entdeckt werden will? Dass sich die Schönheit des neunzehnten Jahrhunderts als Kitsch verbraucht hat und diskreditiert ist? » Han van Meegeren war ein Virtuose und wollte gern ein großer Künstler sein, aber außer Kitsch und Kommerz konnte er nichts produzieren. So wurde er ein Fälscher. Natürlich war er auch eine schwache Persönlichkeit - wie hätte er dann große Kunst produzieren können?
Nachdem ich heute wieder zufällig einen Blick auf die „passende“ Fassung geworfen habe, muss ich doch zugeben, dass das Bildchen etwas hat, was immer es ist. Zumindest kann ich mich an den Farben und Formen erfreuen.