Kommentar 11.01.2011
Hier sind sie wieder, der Mann noch näher am Rand, die Frau sitzt jetzt ebenfalls und hört anscheinend zu. Nun ist der Mann ganz eindeutig auf das Buch fixiert, ein finsterer Typ, fanatisch, unerbittlich - kein Wunder, dass die Frau sich ebenso eindeutig unwohl fühlt, in die Enge getrieben, bedrängt, verwirrt.
Unglaublich, dass ein paar schnelle Striche eine solche Aussagekraft haben können! Die beschwingte Leichtigkeit des
› vorigen Blattes, vor allem durch die Tänzerin hervorgebracht, fehlt hier völlig. Obwohl die Formen der Frau recht geschlossen und rund sind, dazu noch das Herzmotiv variieren, will sich doch keine Wohligkeit einstellen.
Was wird hier gespielt? Das möchte man doch gar zu gerne wissen!
Wie es im Leben so geht: Soeben entdecke ich zufällig Notizen, die ich anlässlich meines geplanten Picasso-Buchs angelegt und vergessen hatte. Darunter ein Zitat, mit dem ich erst einmal nicht so viel anfangen konnte:
| But the deeper imagining I have in mind is spontaneous--it comes to you, like a wild animal, or animal power, as I say in the book. Aber die tiefere Vorstellungskraft, die ich im Sinn habe, ist spontan - sie kommt zu dir, wie ein wildes Tier, oder eine animalische Kraft, wie ich in dem Buch ausführe. » An Interview with Daniel C. Noel | | |
Was mochte damit gemeint sein? Es geht um
» Carlos Castaneda, der mich zwei Jahre später ebenfalls beschäftigen sollte, und um
» C.G. Jung und dessen Würdigung der Imagination.
| Jung said the unconscious reaches God knows where--we don't know where it ends. The same applies to the imagination: we may participate with it close up, but its nether reaches are beyond ego, beyond even self, it may be, stretching into mystery. Jung sagte, das Unbewusste reicht bis Gott weiß wohin - wir wissen nicht, wo es endet. Das gleiche gilt für die Vorstellungskraft: wir können uns direkt mit ihr verbünden, aber ihre Wurzeln reichen bis jenseits des Egos, jenseits auch des Selbst, und erstreckt sich vielleicht ins Geheimnisvolle. a.a.O. | | |
Bei diesen Notizen findet sich auch die Übersetzung des Artikels in der Neuen Züricher Zeitung, die Jung anlässlich der großen Ausstellung verfasst hatte:
» Jung’s 1932 Article on Picasso:
| Non-objective art draws its contents essentially from 'inside.' This 'inside' cannot correspond to consciousness, since consciousness contains images of objects as they are generally seen, and whose appearance must therefore necessarily conform to general expectations. [...] In contrast to objective or 'conscious' representations, all pictorial representations of processes and effects in the psychic background are symbolic. They point, in a rough and approximate way, to a meaning that for the time being is unknown. It is, accordingly, altogether impossible to determine anything with any degree of certainty in a single, isolated instance. One only has the feeling of strangeness and of a confusing, incomprehensible jumble. One does not know what is actually meant or what is being represented. The possibility of understanding comes only from a comparative study of many such pictures. [...] the neurotic searches for the meaning and for the feeling that corresponds to it, and takes pains to communicate it to the beholder. The schizophrenic hardly ever shows any such inclination; rather, it seems as though he were the victim or this meaning. It is as though he had been overwhelmed and swallowed up by it, and had been dissolved into all those elements which the neurotic at least tries to master. [...] Nichtobjektive Kunst schöpft ihre Inhalte im wesentlichen aus dem 'Inneren'. Dieses 'Innere' kann nicht mit dem Bewusstsein in Verbindung stehen, da das Bewusstsein Bilder der Objekte enthält, wie sie allgemein gesehen werden, und deren Erscheinung also notwendigerweise den allgemeinen Erwartungen entsprechen muss. [...] Im Gegensatz zu objektiven oder bewussten Darstellungen sind alle bildlichen Umsetzungen von Prozessen und Wirkungen im psychischen Umfeld symbolisch. Sie alle weisen in einer groben und ungefähren Weise auf eine Bedeutung, die zu diesem Zeitpunkt unbekannt ist. Es ist daher vollkommen unmöglich, etwas mit hinreichender Bestimmtheit über ein einzelnes, isoliertes Phänomen herauszubekommen. Man hat das Gefühl einer Fremdheit und eines verwirrenden, unverständlichen Durcheinanders. Man weiß nicht, was wirklich gemeint ist oder was dargestellt wird. Die Möglichkeit eines Verständnisses ergibt sich höchstens durch das vergleichende Studium vieler solcher Bilder. [...]der Neurotiker sucht nach der Bedeutung und dem Gefühl, das ihm entspricht, und gibt sich die Mühe, das dem Betrachter zu vermitteln. Der Schizophrene zeigt so gut wie nie eine solche Absicht; stattdessen sieht es aus, als ob er das Opfer oder die Bedeutung sei. Es scheint, als sei er davon überwältigt und verschlungen und habe sich in all diese Elemente aufgelöst, die der Neurotiker wenigstens zu bewältigen sucht. [...] a.a.O., Rückübersetzung durch mich - das Original ist mir nicht zugänglich | | |
Bei der vergeblichen Suche nach dem Originaltext bin ich auf eine weitere Perle gestoßen:
| "The artist is not a person endowed with free will who seeks his own ends, but one who allows art to realize its purposes through him. As a human being he may have moods and a will and personal aims, but as an artist he is "man" in a higher sense - he is "collective man," a vehicle and moulder of the unconscious psychic life of mankind." (from 'Psychology and Literature', 1930) Der Künstler ist nicht eine Person mit einem freien Willen, die ihre eigenen Zwecke verfolgt, sondern jemand, der der Kunst erlaubt, ihre Zwecke durch ihn zu verwirklichen. Als menschliches Wesen mag er seine Launen und seinen Willen und seine persönlichen Ziele haben, aber als Künstler ist er "man" in einem höheren Sinne - er ist der "allgemeine Mensch", ein Instrument und Gestalter des unbewussten psychischen Lebens der Menschheit. » Carl Gustav Jung (1875-1961) | | |
Ansonsten gibt es zur Zeit sehr viele Hinweise auf diesen Artikel, da die ursprüngliche Ausstellung (die erste Museumsausstellung Picassos überhaupt) gerade zum 100. Geburtstag des Kunsthauses weitgehend rekonstruiert worden ist - aber selbst in einem Sammelband der zeitgenössischen Kommentare zur damaligen Ausstellung ist Jungs Text nicht abgedruckt (
» Die vielen Stimmen zu den vielen Gesichtern: Eine Publikation verrät, was bei Picassos Auftritt 1932 in Zürich die Gemüter bewegte).
Die aktuellen Kommentare sind allesamt hochgradig ignorant; Picasso wird wie üblich über den grünen Klee gelobt und Jung als Idiot hingestellt (Beispiel:
» Retrospektive in Zürich: Das System Picasso, siehe auch
» OPP-Suche: Jung). Höchstwahrscheinlich hat sich niemand die Mühe gemacht, sich den Artikel genau durchzulesen.
Jung hat als Psychologe natürlich
alle Menschen klassifiziert; irgendein anrüchiges Etikett bekommt jeder. Für mich ist seine Beobachtung sehr aufschlussreich. Sie erklärt, warum ich nach der Bedeutung frage, Picasso jedoch nicht. Ich nehme ihm die Klassifizierung als Neurotiker natürlich nicht übel; die Frage ist allerdings, was dadurch gewonnen wird. Andere Psychologen benutzen andere Systeme; nach
» Alexander Lowen beispielsweise bin ich angeblich
schizoid, was immer das sein mag.
Das ist das Problem mit den Psychologen: Die angeblichen Erklärungen erklären nichts. Das eint sie mit den Kunsthistorikern.
* Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog
» Stürenburg 2007