Ein Kugelschreiber ist schnell und verzeiht nichts. Es wäre tödlich, die Zeichnung kontrollieren zu wollen. Mit sehr viel Übung könnte bestenfalls Routine herauskommen. So aber könnte man den Ansatz als eine Technik begreifen, das Schöpferische zum Vorschein zu bringen.
Habe ich mir das vorher überlegt? Ich weiß es nicht. Als ich später mit den Radierungen begann, war mir bewusst, das ich in einer schöpferischen Krise war, und stellte schnell fest, dass ich durch eben diese Schnelligkeit und Unmöglichkeit der Korrektur automatisch produktiv wurde.
Diesen Kugelschreiberzeichnungen habe ich damals keinen besonderen Wert beigemessen und sie in irgend einer Mappe verschwinden lassen. Dabei ist die Ausdruckskraft der Linien und die Innigkeit der dargestellten Personen und Situationen sehr bemerkenswert und durchaus vergleichbar mit den berühmten antikisierenden Strichzeichnungen Picassos aus den zwanziger Jahren, die vergleichsweise seltsam transformiert und unpersönlich wirken.
Übrigens war Erika zwar Tänzerin, aber sie tanzte natürlich niemals vor mir wie eine Salome. Ob ich ihr damals vorgelesen habe, weiß ich ebenfalls nicht, aber später habe ich das oft gemacht. Das Motiv des Vorlesens in den folgenden Blättern hat also ebenso wenig wie das des Tanzens einen realen Bezug. *
Merkwürdig ist, dass sich bei einer so schnellen Zeichnung überhaupt reale Bezüge einstellen. Die üblichen Kritzeleien beim Telefonieren etwa sehen völlig anders aus. Die Zeichnung ist weitgehend als Umrisslinie ausgeführt, und zwar mehr oder weniger ohne abzusetzen, wie dies Picasso ebenfalls gelegentlich tat.
Carsten-Peter Warncke hat in seinem zweibändigen Werk über » Picasso herausgestellt, dass dieser schon im Studium zu solchen Übungen angehalten wurde. Auch ich wurde in meinem Kunst- oder Werkunterricht damit konfrontiert; eine Ente, aus einem einzigen Draht gebogen und als Wandschmuck wegen der Schattenwirkung mit Abstand auf eine Platte montiert, zeugte davon. Ich weiß noch, dass der Lehrer mir nicht glauben wollte, dass ich sie selbst so gebogen hatte.
Sowohl der Mann als auch die Frau füllen die Fläche aus, wobei die Größenverhältnisse eigentlich zu einer starken visuellen Irritation führen mussten, dies aber merkwürdigerweise nicht tun. Eine räumliche Wirkung kommt nicht zustande, obwohl sowohl der Größenunterschied der sitzenden und stehenden Person wie auch der den Bildrand berührende Fuß dies auslösen müssten.
Trotz der schlabberigen Beine, des ins Bild geklappten Hinterns, des verdrehten Fußes wirkt die Tänzerin nicht lächerlich. Das liegt wohl an der ersten Stimmung der beiden Personen, die durch sparsamste Mittel erreicht wird. Die Frau schaut etwas melancholisch weg vom Mann und in sich hinein, der wiederum macht einen bestürzten Eindruck, wobei unklar ist, ob er auf das Buch oder in sich hineinschaut. Die Frau scheint er jedenfalls nicht anzublicken.
Im weitesten Sinne könnte man die Frisuren als Hinweise auf uns beide verstehen, und das habe ich wohl, obgleich der Mann keinen Schauzbart trägt, mit dem ich mich bis dahin zu identifizieren pflegte. Wie auch nicht? Sollten nicht meine Werke mit mir zu tun haben? * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007