180 cm - 71 inch
Werkgröße 12×112cm
Referenzfigur 180cm
Werkdaten Nr. 4
Assemblage
01.11.1968, 12×112×8 cm (5×44×3")

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Kommentar 10.12.2010
© Copyright Werner Popken. Alle Kunstwerke / all artwork © CC BY-SA


Dies ist das erste Werk aus der Studentenzeit in Berlin, das Eingang in den Werkkatalog gefunden hat. Es befindet sich immer noch in meinem Besitz - was durchaus erstaunlich ist angesichts all dessen, was in den letzten 40 Jahren passiert ist. Wie man deutlich sieht, ist es eine Montage und unterscheidet sich damit erheblich von den vorherigen Versuchen. Es zeugt von der Erweiterung meines Horizonts durch die Übersiedlung 1966 nach Berlin zu Beginn meines Studiums. Dort sah ich erstmals zeitgenössische Kunst. 1968 war ich 20 Jahre alt.

Auf einen Holzbalken ist ein BH mittels Blauköpfen montiert. Zuvor wurde dieser mit damals noch recht neuartiger Sprühfarbe grün eingesprüht und teilweise durch selbstgefertigte Masken abgedeckt, so dass nach Entfernung der Schablonen der Schriftzug 'LIEBE DEINEN NÄCHSTEN' links und rechts der Körbchen sichtbar wurde. Auch der BH ist angesprüht, und zwar in neutralem Rot (ursprünglich war er weiß); die Körbchen sind durch eine dünne Lage Gips ausgesteift. Alle diese Einzelheiten haben ihre Geschichte, und insgesamt ist das Werk auch als ein heiterer Protest zu lesen. Das sollte vermutlich erläutert werden.

Der Balken war neben einer monströsen Schraube, die ich in  Nummer 5 verbaut habe, der einzige Rest eines Klaviers, das unter dramatischen Umständen dem Vandalismus anheimfiel. Der ausrangierte BH gehörte meiner Lebensgefährtin Erika, die ebenfalls Mathematik studierte. Wir lebten zu zweit in einem Zimmer von 9 m² mit mannshohem Kachelofen, zwei Türen und Waschbecken - aber das machte uns anscheinend nichts aus. Wir waren jung und unbeschwert. Diese Hintergründe sprechen natürlich nicht aus dem Werk selbst. Sie sind auch unerheblich für die Deutung und Wirkung.

Der Spruch spielt offensichtlich auf das christliche Gebot an, bekommt jedoch durch die räumliche Nähe zum BH eine spezielle Färbung - immerhin schrieben wir das Jahr 1968 und die sogenannte sexuelle Revolution war in aller Munde. Im Vergleich zu Kommilitonen, die in die Zeitgeschichte eingegangen sind, sich der freien Liebe hingaben und Pornos drehten, waren wir ganz unschuldig, um nicht zu sagen verklemmt. Auf jeden Fall glaubten wir an das Gute im Menschen und an die Liebe. Zynismus war uns beiden absolut fremd und ist es mir auch noch heute.

Mehr oder weniger sinnvolle Botschaften in Kunstwerke zu integrieren und dabei Methoden zu verwenden, die im Versandgewerbe eingesetzt werden, war unter anderem die Masche eines damals protegierten Künstlers, dessen Name mir entfallen ist. Wenn ich nicht irre, war er Professor an der Kunsthochschule in Braunschweig, sein 'Stil' wurde als ganz große Leistung gefeiert, was mich wunderte. Seine Sachen waren sehr dekorativ, aber war das Kunst? Nach dem Motto: „Das kann ich auch, aber besser!“ entstand dieses Werk, das damit dem angezweifelten Konzept durchaus verpflichtet ist.

Durch den Bezug zwischen der religiösen Forderung und dem profanen Gegenstand wird eine ironische Distanz sichtbar, die sich im Grunde über das Werk und damit über die Kunstauffassung der Zeit insgesamt lustig macht. Seht her - das ist Kunst! Oder etwa nicht? Dieses Werk strahlt - was bei Kunstwerken generell eher selten ist - Humor und Toleranz aus. Es ist klar und heiter, was unübersehbar wird, wenn man es mit den Werken der » Pop Art vergleicht, die zu dieser Zeit entstanden und im Regelfall zutiefst zynisch und pessimistisch sind.

Die extremen Maße ergeben sich natürlich erst einmal durch die formalen Bezüge - der BH, dem für diese Montage die Träger entfernt wurden, passt sehr gut auf diesen Balken. Der Balken und die deutlich sichtbaren Nägel wiederum gemahnen auch ohne den Sinnspruch an Christi Kreuz und dessen ausgebreiteten Arme, wobei sich der senkrechte Balken automatisch assoziiert, womit die grimmige, blutige, entsetzliche Dimension des Christentums aufscheint, was einen zusätzlichen Gegensatz und Spannung schafft. Die hier suggerierten ausgebreiteten Arme wollen sozusagen die ganze Welt umarmen, und zwar im Sinne der von Jesus geforderten Nächstenliebe, die allerdings, das legt der BH nahe, erotische und sexuelle Bezüge haben darf, während das schreckliche Leiden und die Verlassenheit des Gottessohnes ausgespart bleibt und damit auch die Gewissensfolgen für dessen Kirchenanhänger. Liebe, durch den BH und dessen rote Farbe in den Kontext der sexuellen Liebe gestellt, entbehrt hier jeglicher Konnotation der Sünde, die bekanntlich ebenfalls eine Zutat der Kirchenväter ist und sich bei Jesus nicht findet. Mit dieser Deutung bekommt das Werk auch eine politische Dimension: Alle Menschen sind gemeint, und die Naivität der Jugend glaubt, den Frieden auf Erden tatsächlich herstellen zu können, wobei die Versprechungen der sich entwickelnden sexuellen Revolution ernst genommen werden.

Schließlich spricht für mich aus dieser Assemblage auch ein gewisser Stolz auf die schöne Trägerin dieses BHs, die mich als Ihren Liebsten erwählt hatte, und auf die Freuden, die ich mit ihr erleben durfte. Es ist also auch eine Liebeserklärung. Sagt das auch das Werk aus? Ich denke schon. Es spricht mit einer zarten Reinheit ein heikles Thema an, das so leicht entweiht werden kann und durch die Kunst auch vielfach entweiht worden ist. Es ist eine männliche Liebeserklärung, die die unbezweifelbare und unerklärliche Faszination des Mannes durch die weibliche Brust mit den nichtsexuellen Aspekten der Liebe verbindet.

Selbstverständlich ist dies jetzt der Kommentar und die Interpretation eines alten Mannes, mehr als 40 Jahre nach der Entstehung dieses Werkes verfasst. So ist es nicht konzipiert worden. Ich habe nicht darüber nachgedacht und spekuliert, sondern einfach getan. Der Balken stand herum, der BH wurde ausrangiert, und in diesem Moment habe ich gehandelt. Was das bedeuten sollte, war mir nicht klar, aber ich habe mir noch nicht einmal diese Fragen stellt. Die Assoziation der religiösen Forderung mit der Sexualität, die Veranschaulichung der beiden Aspekte der Liebe, zusammen mit dem Seitenhieb auf den Kunstbetrieb waren mir Grund genug. Dass ich mir keinen Gefallen tat, wenn ich mich lustig machte und persiflierte, ging mir erst viel später auf.

 





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