Wieder musste Picasso mich anschieben. Die Anleihen bei diesem sind ebenso offensichtlich wie die Distanz zu ihm. Hier scheint sich ein Vater seine Tochter und deren Liebhaber oder seinen Sohn und dessen Geliebte vorzuknöpfen. Der Dackel ist das erste Tier und kommt in den Vorbildern nicht vor. Der Jüngling links hat einen Schnurrbart - sollte das ein Selbstportrait sein? Auf die Idee bin ich ja noch gar nicht gekommen! *
Die findigen Köpfe haben schon immer geklaut, wo sie konnten, und nicht zuletzt dadurch hat sich die Menschheit als überlegenes Wesen auf der Erde etablieren können. Ein jeder von uns, egal ob Wissenschaftler, Techniker, Pädagoge oder Künstler, baut auf den Erfahrungen und Errungenschaften seiner Vorgänger auf.
Eine » Paraphrase ist allerdings nicht einfach eine Übernahme oder gar Kopie, sondern eher eine Art Anverwandlung. Die Verpflichtung dem Vorbild gegenüber ist deutlich erkennbar, aber es entsteht etwas durchaus Neues.
Gerade dieses Neue hat seinerzeit den Skandal um das Gemälde von Manet hervorgerufen. Hätte er die Szene als Stelldichein von Göttern inszeniert wie Raffael in seiner verschollenen Zeichnung, die dem Kupferstich zugrunde liegt, wäre der Protest vermutlich ausgeblieben. So aber konfrontierte er modisch gekleidete Pariser Männer mit selbstbewussten nackten oder halbnackten Frauen, die so gar nicht den Eindruck der Käuflichkeit machten, sondern ihre Nacktheit als absolut selbstverständlich und natürlich anzusehen schienen. Damit knüpft er freilich direkt an Giorgione an, der diese skandalöse Zusammenstellung schon bringt.
Manets Inszensierung war natürlich Fiktion. Das Bild ist ja auch nicht draußen in der freien Natur gemalt worden, sondern im Atelier. Eines Tages stand ich vor dem Original, und da sprangen mir die perspektivischen Brüche geradezu ins Auge. Die Topographie der Landschaft ist absolut unglaubwürdig, um nicht zu sagen grob misslungen, übel geflickt aus verschiedenen Versatzstücken. Das stört aber nicht unbedingt, sondern tut dem Bild vielleicht sogar gut, insofern der Blick sich auf die Personen konzentriert, besonders natürlich auf die schöne Frau im Vordergrund.
Sowohl die Frau als auch die Männer werden bei Manet deutlich als Persönlichkeiten charakterisiert. Möglicherweise sind es sogar ziemlich getreue Portraits - jedenfalls ist heute bekannt, wer für welche Figur Modell gestanden oder gesessen hat. Im Gegensatz dazu sind die Figuren in sämtlichen Paraphrasen Picassos (und er hat 1960/61 einen Haufen davon angefertigt, in verschiedenen Techniken, z.B. »Le déjenuer sur l'herbe (d'après Manet), 114x146cm) sämtlich absurde Pappfiguren, noch nicht einmal Karikaturen, sondern einfach lächerlich willkürliche Erfindungen, deren stärkste Charakteristik die unverkennbare Handschrift Picassos ist. So bleibt sein Tun lediglich nichtssagende Fingerübung und kann seinem Vorbild das Wasser nicht reichen. Insbesondere erfährt man nichts über die Beziehungen dieser Personen, was durchaus stimmig ist, da sie ja eigentlich gar keine sind - welche Beziehungen sollten sie haben können?
Bei Picasso sind alle Personen nackt, und das habe ich offensichtlich übernommen. Im alten Mann rechts taucht auch dessen doppelte Profillinie wieder auf, neben einigen anderen Picasso-typischen Kürzeln. Merkwürdig, dass trotzdem die Charakterisierung als Person nicht leidet und man bei diesen Figuren, die doch Picasso einiges verdanken, sogar das Alter bestimmen kann.
Die Nacktheit der vorderen Frau wird (wie bei Picasso) auch nicht besonders herausgestellt (wie bei Manet). Dort möchte deren Nacktheit ganz selbstverständlich erscheinen, ist aber gerade durch den Gegensatz zur korrekten Bekleidung der Herren überhaupt nicht selbstverständlich. Die Nacktheit der Figuren Picassos ist demgegenüber einfach nur Manie und tut nichts zur Sache bei.
Bei mir wird nicht die Nacktheit als solche thematisiert, sondern diese ist ein eher nebensächlicher Bestandteil der Situation. Sie erscheint hier als Reduktion der Person auf die Substanz, als Verzicht auf Verkleidung und gesellschaftliche Stützen. Da doziert einer, und zwei hören zu und denken sich ihren Teil. Damit bekommt die ganze Szene einen anekdotischen Charakter. Die rechte Figur erhält die Rolle des Vaters oder Mentors, die beiden linken erscheinen als Liebespaar.
Die Frau mit ihren langen goldenen Haaren wirkt wie eine Prinzessin, die weiß, was sie will, und sie wird sich durch die Standpauke des Alten nicht beeinflussen lassen. Der junge Mann ist demgegenüber stark betroffen, seine Körperhaltung zeigt sowohl Lässigkeit als auch die Bereitschaft zum Widerstand. Die hintere Frau steht in keinerlei Beziehung zu dieser Gruppe, ist einfach nur Bezugnahme auf Picasso und Manet, und fällt auch stilistisch und farblich etwas aus dem Rahmen.
Die räumlichen Beziehungen und die Lichtführung sind denkbar einfach, aber dennoch überzeugend realisiert - der dunkle Wald und die großen Bäume kommen gut rüber. Man merkt, dass ich vollkommen entspannt war und mich gerne von den Erfindungen Picassos tragen ließ. Ich musste ja niemandem etwas beweisen, nicht einmal mir selbst. Und deshalb ist es vielleicht auch so gut gelungen.
Es gefällt mir, es gefällt mir besser als die Variationen Picassos, mit denen ich mich intensiv beschäftigt habe, um daran zu lernen. Allerdings fiel mir schwer zu erkennen, was daran wirklich gut sein sollte. Selbstverständlich gab ich ihm allen nur denkbaren Kredit. Aber wer war ich, dass ich mir hätte anmaßen können, eine Meinung über Picasso zu haben? Picasso war unzweifelhaft genial, alles was er produzierte, musste absolut großartig sein, museumsreif. Und so sieht es die Welt ja bis heute.
Was sagt dieses Bild nun? Im Gegensatz zu Picassos Bemühungen, die keinerlei gesellschaftliche oder persönliche Aussage zu haben scheinen, woran sich schon » John Berger sehr gestoßen hat (deutsch » Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso, Originalausgabe 1963), und Manets zeit-, situations- und gesellschaftsbezogene Aussage wird hier eine eher archetypische Situation dargestellt, der Generationsgegensatz und die Abkoppelung der jungen Generation aus Liebesgründen.
Natürlich wirkt dieses Bild auch naiv, und durch den Dackel bekommt es sogar einen humoristischen Aspekt. In erster Linie drängt sich aber die existenzielle Problematik auf, die dem Bild seine Tiefe verleiht. Ich vermute, ich verstand es damals wörtlich und bezog es wie ein Traumgeschehen auf eine reale Situation. Als ich vier Jahre zuvor das erste Mal meine neue Lebenspartnerin mit zu meinen Eltern brachte, stellte mein Vater mich zur Rede und verlangte von mir, zölibatär zu leben, um mein Studium nicht zu gefährden. Schlagfertig hatte ich eine Entgegnung parat, und damit war das Thema eigentlich erledigt.
Deshalb konnte ich mit dem Bild im Grunde nichts anfangen. Was ich allerdings nicht ins Bewusstsein kommen ließ, war die Frage, wie es mit uns beiden weitergehen sollte. Ich hielt es für modern und zeitgemäß, nicht zu heiraten, fand es sogar überzeugender für die Beziehung, da man ja aus freien Stücken beieinander blieb und damit aller Welt und sich selbst jederzeit bewies, wie es um die Beziehung stand. Das war allerdings ein Irrtum, wie sich wenige Jahre später herausstellen sollte.
Heute denke ich, das man das Bild möglicherweise als einen Hinweis auf diese versteckte Problematik verstehen kann, so wie man auch meint, dass unverarbeitete Probleme im Traum auf sich aufmerksam machen. Freilich war ich weder so weit, Bilder so verstehen zu können, noch mich auf sie einzulassen und sie wirklich zu befragen. Welche Kräfte und Mechanismen bei Träumen und Bildern wirken, ist weitgehend unbekannt. Wer von der Existenz einer Seele überzeugt ist, wird vielleicht deren Wirken darin erkennen wollen.
Insgesamt konnte mich aber auch dieses Bild nicht überzeugen. Freilich überzeugt mich auch der Manet nicht, von den Picassos ganz zu schweigen. Kunst schien mir doch noch etwas ganz anderes zu sein. * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007
Da das Picasso Project seit spätestens 24.01.2011 gesperrt ist, führt ein direkter Link nicht mehr zum Ziel; daher bin ich gezwungen, die erwähnten Werke hier zu reproduzieren und berufe mich dabei auf » Fair Use bzw. das » Zitatrecht.