Zweifellos hatte ich wieder meine schöne Freundin im Sinn, die damals einen Pony trug; auf dem Foto war dies nicht der Fall. Merkwürdigerweise sind die Augen ganz schwarz und tot, und auch der Mund ist schwarz oder zumindest sehr dunkel geschminkt - nach dem vorliegenden Scan zu urteilen, jedenfalls. Gesicht und Hände sind demgegenüber weiß.
Die Frau sitzt anscheinend in einem Ecksofa. So etwas besaßen wir gar nicht. Hinter ihr scheint sich eine Wandecke zu befinden, allerdings ist die schräg. Den rechten Arm hat sie aufgelegt, die Hand hängt leblos herunter.
Die Malweise der Hand erinnert mich ein bisschen an » Max Beckmann, und ich kann es nicht vermeiden, dass mir dabei sofort die Anekdote einfällt, von der er in seinem Tagebuch erzählt. Käufer hatten ihm ein Bild zur Überarbeitung zurückgebracht, weil sie die Anzahl der Finger nachgezählt hatten. Es war einer zu viel, er musste sein Bild korrigieren und bezeichnete die Operation als Amputation. Diese Anekdote kannte ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht - genau dasselbe ist Picasso übrigens auch passiert, wie ich erst vor ein paar Jahren erfahren habe, und auch er hat dem Wunsch der Besitzer stattgegeben, obwohl er doch sonst so abweisend war.
Und tatsächlich: Sie hat doch sechs Finger an ihrer Hand! Ist ja nicht zu fassen! Da ich der Besitzer bin und keinen Anstoß daran nehme, es ja gar nicht bemerkt habe, wird es auch so bleiben. Ansonsten sitzt sie in einer königlichen Haltung, geschmückt mit einer Kette, die ein gewaltiger Anhänger ziert, aber merkwürdigerweise scheint der linke Arm zerlumpt zu sein. Die linke Hand ruht auf ihrem Oberschenkel.
Die Haare wirken wieder wie eine Perücke, das Kinn scheint zu kurz zu sein, an der Nase habe ich korrigiert (am Kinn vielleicht auch), ihr Hals scheint durch einen Schal oder Rüschen bedeckt zu sein. Möglicherweise ist die weiße Gesichtsfarbe über etwas drübergepinselt, was man noch ganz leicht ahnen kann. Sie schaut unbestimmt vor sich hin.
Auffällig ist der großflächige rote Hintergrund, der mit dem roten Unterkleid korrespondiert, das am zerlumpten linken Arm sichtbar wird. Die Atmosphäre ist insgesamt etwas traurig und hoffnungslos. Wäre das Bild aus der blauen Periode von Picasso, handelte es sich um eine Prostituierte oder Absinthtrinkerin, womit eine Alkoholikerin gemeint wäre.
Die Farbe ist an vielen Stellen gar nicht überzeugend, zum Beispiel das Braun des Sofas, besonders um ihre rechte Hand herum. Dafür überzeugt das Kleid an vielen Stellen. Der linke Arm wirkt etwas abgeschnitten, die rechte Hüfte ist ebenfalls etwas knapp.
Diese ganze Diskussion ist aber sehr merkwürdig, da die späteren Bilder so überzeugend wirken, obwohl überhaupt nichts stimmt, wenn man sie mit ähnlichen Augen betrachten würde. Warum drängt sich der Eindruck hier überhaupt auf? Liegt es daran, dass die Malweise eine realistische Darstellung suggeriert, lediglich auf eine etwas freizügige Weise? Aber dann müsste ja jegliche unrealistische Darstellung per se überzeugend wirken, was ja auch nicht der Fall ist.
Ich fürchte, hier stößt die Sprache und die Analyse an Grenzen. Warum wirkt beispielsweise ihre rechte Hand im oberen Bereich weniger überzeugend als im unteren, obwohl ja nicht nur ein Finger zu viel ist, sondern die angedeuteten Fingernägel zuweilen gar nicht an der richtigen Stelle sitzen?
Demgegenüber wirkt ihre linke Hand überzeugender, aber zugleich weniger ausdrucksvoll. Der Übergang zwischen ihrem linken Oberarm und dem Unterarm ist für mein Empfinden durchaus in Ordnung, sachlich gesehen jedoch völlig unbefriedigend. So gesehen ist es erstaunlich, dass ich den Mut gefunden habe, das Bild so stehen zu lassen, wie es ist.
Obwohl es also viele Hinweise gibt, dass das Bild ein Portrait ist, hat es abgesehen von Äußerlichkeiten doch keinerlei Ähnlichkeiten. Diese Frau ist mir vollkommen fremd und ist es immer gewesen. Möglicherweise habe ich ein Portrait vorgehabt, und es ist mir nicht gelungen. * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007