180 cm - 71 inch
Werkgröße 80×55cm
Referenzfigur 180cm
Werkdaten Nr. 193
Lack / Hartfaser
01.08.1974, » 80×55 cm (31×22")
Rückseite von » 190

» Kommentar

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Kommentar 04.10.2012
© Copyright Werner Popken. Alle Kunstwerke / all artwork © CC BY-SA



› No. 190    80x55 cm
Rückseite

Und noch einmal bricht der Kubismus durch, wie ihn sich Lieschen Müller vorstellt. Sorry, ich kann nichts dafür. *

17.02.2013

Diese beiden kurzen Sätze muss ich vermutlich erläutern. Der erste sagt, dass der Kubismus sich nie so dargestellt hat wie in diesem Bild, es sich also eigentlich gar nicht um ein kubistisches Bild im strengen Sinn handelt, sondern vielmehr um eine Darstellung dessen, was man sich darunter vorstellen könnte, wenn man nur eine oberflächliche Ahnung davon hätte, wie man das bei Lieschen Müller voraussetzen kann.

Der zweite will natürlich nicht sagen, dass ich dieses Bild nicht gemalt habe und dafür nicht die Verantwortung übernehmen wollte. Stattdessen soll deutlich werden, dass ich nicht die Absicht gehabt habe, die Vorstellung von Lieschen Müller zu illustrieren und mich gar darüber lustig zu machen, wie man sich das etwa von » Sigmar Polke vorstellen kann.

Es herrscht im Gegenteil überhaupt keine ironische Distanz, das Bild ist vollkommen ernst und wahrhaftig, und die konkrete Form, in der es erscheint, die angeblich kubistischen Stilmittel, sind nicht bewusst gewählt, sondern haben sich einfach so ergeben, im Prozess des Malens.

Es wäre daher auch falsch, aus der Erscheinungsform eine Absicht abzuleiten. Das Bild ist so wie es ist, weil es so geworden ist und nicht weil ich es so wollte. Genausowenig kann man aus der Tatsache der Farblosigkeit auf irgendwelche Absichten meinerseits schließen. Aber worum geht es denn überhaupt?

» Denis Dutton behandelt im Nachwort der zweiten Auflage seines Buches » The Art Instinct Einwände von Lesern und Rezensenten, unter anderem den, es ginge ihm darum, die Kunst auf die sexuelle Selektion zurückzuführen. Er gibt zu, dass er vielleicht diesen Gesichtspunkt übermäßig deutlich behandelt hat, weil dieses Darwinsche Konstrukt in der Öffentlichkeit nicht so bekannt ist wie die ursprüngliche These von der Selektion aufgrund von äußeren Umständen und zufälligen Mutationen. Er habe aber dargestellt, dass die sexuelle Selektion, obwohl viel für sie spricht, die Kunst nicht vollständig erklären kann.

Natürlich umwerben viele Künstler mit Hilfe ihrer Kunst das andere Geschlecht, nicht umsonst drehen sich beispielsweise nach wie vor die meisten Lieder um die Liebe. Eine vollständige Erklärung bekommt man laut Dutton aber erst, wenn man » Gruppenselektion mitberücksichtigt. Diese These stammt ebenfalls von Darwin, wurde aber erst 1962 ausgearbeitet. Menschen sind keine Einzelgänger, Gruppen können Vorteile gegenüber anderen Gruppen erlangen, und insbesondere die menschliche Fähigkeit, sich zukünftige Entwicklungen oder weit entfernte Verhältnisse vorzustellen, haben offensichtlichen Vorteile im Kampf ums Überleben.

Der eigentliche Grund für die Faszination der Kunst ist für Dutton die Fähigkeit, sich in die Seele des Menschen hineinzuversetzen, der die Kunst geschaffen hat. Die Tatsache, dass Signaturen und urheberrechtliche Zuschreibungen erst neueren Datums sind, ist für ihn kein Einwand. Er hat mehrere Jahre bei den » Sepik verbracht, um seine Thesen zu überprüfen, und weiß daher aus erster Hand, dass es in kleinen Gruppen überhaupt keinen Sinn ergibt, etwas zu signieren, weil ohnehin jeder weiß, wer was gemacht hat und wer was kann.

Mit Hilfe der Kunst kann man seiner Meinung nach am ehesten erfahren, wie es in einem anderen Menschen aussieht, wie er sich fühlt, was er denkt, wonach er sich sehnt. Damit ergibt sich auch ein Bogen zur Religion.

As high complexity of structure and seriousness of themes and expression mark great works of art, so does authenticity of artistic purpose -- a sense that the artist means it. In his remarkable study of the highest excellence in the arts and sciences, Human Accomplishment, Charles Murray puts forward the idea that the greatest art tends to be created against the cultural backdrop of what he calls "transcendental goods" -- a belief that real beauty exists, there is objective truth, and the good is a genuine value independent of human cultures and choices. [...] Murray connects with this idea the claim that "great accomplishment in the arts depend upon a culture's enjoying a well-articulated, widely held conception of the good" and that "art created in the absence of a well-articulated conception of the good is likely to be arid and ephemeral."

This falls in line with Tolstoy's view that artistic value is achieved only when an art work expresses the authentic values of its maker, especially when those values are shared by the artist's culture or community. Tolstoy damned modern art as amusing but spiritually empty [...] To put it as plainly as possible: Tolstoy and Murray both argued that the best art is produced in societies that believe in something. [...]

Murray's conclusion that artistic masterpieces will be more likely found in cultures and times committed to transcendental goods that are justified in religious faith is backed up by this phenomenal strength of the arts in the Italian Renaissance (as it is by the decline of great art in cynical, ironic ages, such as our own). Nevertheless, absolute seriousness of purpose comes ultimately from an individual, not just a cultural, and most great artists, musicians, and writers demonstrate a rare and often obsession of commitment to solving artistic problems in themselves. With Shakespeare, Beethoven, Hokusai, and Wagner we have artists for whom the art itself is the transcendental good and not a reflection of anything else -- an articulated religious or ethical ideal, or even a theory of beauty. The commitment of many of the greatest artists comes from within them and is addressed to their art, its problems and opportunities, and not to their philosophy or their religion.

Ebenso wie eine hohe strukturelle Komplexität und Ernsthaftigkeit in der Themenwahl und im Ausdruck große Kunstwerke kennzeichnen, so auch die Authentizität der künstlerischen Absicht - im Sinne der Künstler meint es. In seiner bemerkenswerten Studie über die höchste Vollkommenheit in den Künsten und Wissenschaften, Human Accomplishment, entwickelt Charles Murray die Idee, dass die größte Kunst vor dem kulturellen Hintergrund dessen produziert wird, was er "transzendentale Güter" nennt - die Überzeugung, dass wahre Schönheit existiert, es objektive Wahrheit gibt und dass Gute einen echten Wert darstellt unabhängig von menschlichen Kulturen und Entscheidungen. [...] Murray verbindet mit dieser Idee die Behauptung, dass "große Errungenschaften in den Künsten davon abhängen, dass eine Kultur sich einer wohldefinierten, weit verbreiteten Vorstellung des Guten erfreut" und dass " Kunst, die unter Abwesenheit einer wohldefinierten Vorstellung des Guten produziert wird, vermutlich unfruchtbar und vergänglich sein dürfte".

Dies steht im Einklang mit Tolstois Auffassung, dass künstlerischen Wert nur erreicht wird, wenn ein Kunstwerk die echten Werte des Herstellers ausdrückt, vor allem, wenn diese Werte des Künstlers durch dessen Kultur oder Gemeinschaft geteilt werden. Tolstoi verdammte die moderne Kunst als amüsant, aber geistig leer [...] Um es so deutlich wie möglich zu auszudrücken: Tolstoi und Murray argumentieren Beide, dass die beste Kunst in Gesellschaften produziert wird, die an etwas glauben.

Murrays Schlussfolgerung, dass künstlerische Meisterwerke eher in Kulturen und Zeiten gefunden werden, die sich transzendenten Werten verpflichtet fühlen, die sich auf religiöse Vorstellungen gründen, wird durch die phänomenale Stärke der Künste in der italienischen Renaissance untersützt (wie auch durch den Verfall großer Kunst in zynischen, ironischen Zeitaltern wie unserem eigenen). Dennoch rührt die außerordentliche Ernsthaftigkeit des Zwecks von einem Individuum her, nicht bloß von der Kultur, und die meisten großen Künstler, Musiker und Schriftsteller legen eine seltene und häufig besessene Hingabe an die Lösung künstlerischer Probleme an den Tag. Shakespeare, Beethoven, Hokusai und Wagner sind Beispiele für Künstler, für die die Kunst selbst ein transzendentes Gut ist und nicht etwa der Spiegel von irgendetwas anderem - eines ausformulierten religiösen oder ethischen Ideals oder gar einer Theorie des Schönen. Viele der größten Künstler schöpfen ihre Begeisterung aus sich selbst und widmen sie ihrer Kunst, ihren Problemen und Möglichkeiten, und nicht ihrer Philosophie oder ihrer Religion.

a.a.O., p. 239,240, Übersetzung durch mich

Was diese künstlerischen Probleme sein sollen, führt Dutton nicht weiter aus. Soll ich jetzt vorgeben, es seien künstlerische Probleme gewesen, die mich umgetrieben hätten, als ich dieses Bild gemalt habe? Welch ein Schwachsinn! Ich fürchte, diese Probleme, so es sie denn je gegeben hat, interessieren auch niemanden, noch nicht einmal den Künstler. Es geht nämlich um etwas ganz Anderes, um etwas sehr Dringendes, das vermutlich sogar ganz unaussprechlich ist.

Dutton spricht es nicht so klar aus, aber vermutlich jeder Mensch, auf jeden Fall sehr viele Menschen empfinden eine gewisse Sehnsucht nach etwas, das sie nicht benennen können. Ein amerikanischer Laienprediger hat es auf seiner Website einmal so ausgedrückt: Jeder Mensch habe ein Loch in seinem Herzen, das gefüllt werden müsse, und in dieses Loch passe nur Gott.

Von Sehnsucht handelt jedenfalls ein Großteil der Kunst, Sehnsucht nach etwas, das nicht richtig benannt werden kann, und dem Unglück, das daraus entsteht, dass diese Sehnsucht nicht befriedigt werden kann. Ich selbst habe es nicht sehen können, aber im neuen Jahrtausend begegnete mir jemand, für den völlig offensichtlich war, dass alle meine Bilder diese Sehnsucht nach Gott zum Ausdruck bringen. Das wollte ich gar nicht wahrhaben, mit Gott hatte ich nichts zu tun.

So sah jedenfalls mein Selbstbild aus, aber es war völlig falsch. Gott hat mich mein Leben lang begleitet, ohne dass ich es sonderlich bemerkt hätte. Er war mir einfach selbstverständlich, aber mein Ego schämte sich dafür und verleugnete sich und ihn. Als moderner aufgeklärter Mensch fand ich keinen Platz für Gott. Glücklicherweise hat Gott das nicht gekümmert. Der ist bescheiden und zurückhaltend und scheu und kann warten. Inzwischen weiß ich es besser. Aber auch in diesen öffentlichen Zeilen habe ich mich sehr gehütet, allzu offen von diesen Dingen zu reden.

Vor ein paar Tagen hat mich jemand aufgefordert und ermutigt, » Von der Freiheit eines Christenmenschen von » Martin Luther zu lesen. Den Text bei » Gutenberg fand ich schwer zu lesen. Später habe ich eine Webseite gefunden mit der Originalfassung, die noch schwerer zu lesen ist, und einer moderneren, aus der ich zitiere:

Gute, rechtschaffene Werke machen niemals einen guten, rechtschaffenen Mann, sondern ein guter rechtschaffener Mann macht gute, rechtschaffene Werke. Böse Werke machen niemals einen bösen Mann, sondern ein böser Mann macht böse Werke, so daß allemal die Person zuerst gut und rechtschaffen sein muß vor allen guten Werken, und die guten Werke folgen aus der rechtschaffenen guten Person und gehen aus ihr hervor. So wie Christus sagt: »Ein böser Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine böse Frucht!« Nun ist es klar, daß die Früchte nicht den Baum tragen und die Bäume auch nicht auf den Früchten wachsen, sondern umgekehrt, die Bäume tragen die Frucht, und die Früchte wachsen auf dem Baum. Wie nun die Bäume eher da sein müssen als die Früchte und die Früchte den Baum weder gut noch böse machen, sondern die Bäume machen die Früchte, so muß der Mensch als Person zuerst rechtschaffen oder böse sein, ehe er gute oder böse Werke tut, und seine Werke machen ihn nicht gut oder böse, sondern er macht gute oder böse Werke. - Dasselbe sehen wir bei jedem Handwerk. Ein gutes oder schlechtes Haus macht keinen guten oder schlechten Zimmermann, sondern ein guter oder schlechter Zimmermann macht ein gutes oder schlechtes Haus. Kein Werk macht einen Meister so, wie das Werk ist, sondern wie der Meister ist, so ist auch sein Werk.

» Von der Freiheit eines Christenmenschen. Martin Luther, 1520

„Kein Werk macht einen Meister so, wie das Werk ist, sondern wie der Meister ist, so ist auch sein Werk.“ In diesem Sinne ist verständlich, warum Dutton mit anderen Theoretikern einen sehr deutlichen Zusammenhang zwischen der Qualität der Kunst und der Religiosität der Zeit, in der diese Kunst entstanden ist, herstellen zu können glaubt. Er traut sich zwar nicht zu sagen, dass eine ironische, nihilistische, gottlose Zeit wie die unsere keine Kunst von dauerndem Wert hervorbringen kann, aber im Grunde meint er es.

Um nicht allzu sehr mit seinen Kollegen und den Kunstexperten aneinanderzugeraten, gibt er sich vielmehr die größte Mühe, die » Readymades » Duchamps als Kunstwerke höchsten Grades zu identifizieren, aber man merkt, dass er davon nicht wirklich überzeugt ist. Das ist nichts, was das Herz anrührt. Und darauf kommt es an. Philosophen und Kunsthistoriker wissen im allgemeinen nicht, was das Herz ist, und so sie es wissen, trauen sie sich vermutlich nicht, davon zu reden.

Für Luther ist die Seele das Wichtigste, und dass die Seele existiert, steht für ihn außer Frage. Die Seele muss zu ihrem Recht kommen, alles andere folgt von selbst. Das tut sie für Luther durch den Glauben, und damit ist sie bereits errettet. Der Mensch kann nichts dafür tun, es ist Gottes Gnade, die ihm geschenkt wird. Dann aber ist sie so voll der Seligkeit, dass sie dem Ausdruck geben muss durch Taten und Werke, die unweigerlich vom Zustand seiner Seele künden.

Einen im Grunde ähnlichen Gedanken hatte ich bei » Robert Pirsig gefunden, dessen philosophischer Roman » Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, der mich lange Zeit sehr stark beschäftigt hat, für mich an dieser Stelle kulminiert:

Maybe it’s just the usual late afternoon letdown, but after all I’ve said about these things today I just have a feeling that I’ve somehow talked around the point. Some could ask, ‘Well, if I get around all those gumption traps. will I have the thing licked?’

The answer, of course, is no, you still haven’t got anything licked. You’ve got to live right too. It's the way you live that predisposes you to avoid the traps and see the right facts. You want to know how to paint a perfect painting? It's easy. Make yourself perfect and then just paint naturally. That's the way all the experts do it. The making of a painting or the fixing of a motorcycle isn't separate from the rest of your existence. If you're a sloppy thinker the six days of the week you aren't working on your machine, what trap avoidances, what gimmicks, can make you all of a sudden sharp on the seventh? It all goes together.

But if you're a sloppy thinker six days a week and you really try to be sharp on the seventh, then maybe the next six days aren't going to be quite as sloppy as the preceding six. What I'm trying to come up with on these gumption traps, I guess, is shortcuts to living right. The real cycle you’re working on is a cycle called yourself. The machine that appears to be ‘out there’ and the person that appears to be ‘in here’ are not two separate things. They grow towards quality or fall away from Quality together.

Ich weiß nicht, ob es einfach nur der übliche Durchhänger am späten Nachmittag ist, aber nach alldem, was ich heute gesagt habe, bleibt ein Gefühl zurück, dass ich irgendwie um die Sache herumgeredet habe. Einige könnten fragen: ‘Nun, wenn ich all diese Mummfallen vermeide, kriege ich das Ding dann gebacken?’

Die Antwort ist natürlich nein, Sie kriegen immer noch nichts gebacken. Sie müssen auch richtig leben. Die Art, wie Sie leben, bestimmt, wie Sie all diese Fallen vermeiden und die richtigen Fakten sehen. Wollen Sie wissen, wie man ein makelloses Gemälde herstellt? Es ist einfach. Machen Sie sich selbst makellos und dann malen Sie einfach drauflos. So machen es alle Experten. Die Produktion eines Gemäldes oder die Reparatur eines Motorrades ist nicht vom Rest Ihrer Existenz getrennt. Wenn Sie an sechs Tagen in der Woche, wo Sie nicht an Ihrer Maschine arbeiten, ein nachlässiger Denker sind, welche Fallenvermeidungsstrategien, welche Supertricks könnten Sie urplötzlich am siebten Tag auf Zack bringen? Es hängt alles zusammen.

Aber wenn Sie sechs Tage in der Woche ein nachlässiger Denker sind und sich am siebten wirklich bemühen, auf Zack zu sein, könnte es sein, dass Sie die nächsten sechs Tage nicht ganz so nachlässig sind wie die vorhergehenden. Ich glaube, mit all diesem Gerede um Mummfallen geht es mir im Grunde um eine Abkürzung zum richtigen Leben. Das wirkliche Motorrad, an dem Sie arbeiten, ist ein Motorrads namens Selbst. Die Maschine, die ‘da draußen’ zu sein scheint und die Person, die ‘hier drin’ zu sein scheint, sind nicht zwei verschiedene Dinge. Sie wachsen zusammen in Richtung Qualität oder fallen gemeinsam davon ab.

» Pirsig, Robert M.: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance. Bantam Doubleday Dell, 1980, Seite 293, Übersetzung durch mich

„[...] wie der Meister ist, so ist auch sein Werk“. Genau das sagt auch Pirsig. Und wer verhilft dem Meister zu seiner Meisterschaft? Hier liegt der eigentliche Knackpunkt im Text Pirsigs, den ich bis heute überlesen habe. Er schreibt einfach »make yourself perfect« - was soll das heißen, bitte sehr? Das ist doch genau die Frage, um die er sich herumdrückt.

Das Wort „godhead“ = Gottheit taucht in Pirsigs Text zwar ein paarmal auf, aber der Autor scheint doch ein freundloser, gottloser Mensch zu sein, der gegen Ende des Buches sogar ernsthaft erwägt, sich umzubringen. Welch ein Kontrast zur Freude und Lust Luthers, dessen Herz erfüllt ist und fast zu zerspringen droht!

Wohlan, mein Gott hat mir unwürdigem, verdammten Menschen ohne alles Verdienst, rein umsonst und aus lauter Barmherzigkeit durch und in Christus einen vollkommenen Reichtum aller Rechtschaffenheit und Seligkeit geschenkt, so daß ich künftig weiter nichts mehr nötig habe als zu glauben, es sei so. Ei, so will ich für diesen Vater, der mich mit seinen überschwenglichen Gütern so überschüttet hat, auch frei, fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt, und für meinen Nächsten auch eine Art Christus werden, wie Christus mir geworden ist, und nichts anderes als das tun, was ihm nur, wie ich sehe, nötig, nützlich und heilsam ist, weil ich ja durch meinen Glauben in Christus alle Dinge zur Genüge habe. - Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, umsonst dem Nächsten zu dienen. Denn ebenso wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, haben wir vor Gott Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, mit dem Leib und seinen Werken dem Nächsten helfen. Wir sehen also, was für ein hohes, edles Leben das christliche Leben ist, das jetzt leider in aller Welt nicht nur darniederliegt, sondern auch unbekannt geworden ist und nicht mehr gepredigt wird.
a.a.O.

Bei Pirsig muss der Mensch sich selbst erretten, bei Luther errettet ihn Gott. Kein Wunder, dass Pirsig verzweifelt.

Gestern Abend habe ich mir einen großen Teil einer Predigt angeschaut: » You Are Called To Become, gehalten von » Rick Warren, dem Gründer der » Saddleback Church. Diese Predigt ist Teil einer Serie, es geht darin genau um die Fragen, um die Pirsig sich drückt: Wie lebe ich richtig? Wie stelle ich es an, dass ich mein Leben richtig lebe? Der Prediger weiß Bescheid. Er verkündet seinen Schäflein, was sie zu tun haben, damit ihr Leben gelingt. Er gibt ihnen jede Menge Hilfestellungen an die Hand, mit deren Hilfe sie nicht fehlen können.

Von dieser Predigt war ich sehr angetan und wollte sie auch bis zum Ende anhören. Aber dann wurde ich unterbrochen und erzählte meiner Frau davon. Die versteht was von solchen Dingen und klärte mich auf. Die » Baptisten müssen sich ebenfalls selbst erretten, und deshalb sind sie auch immer getrieben. Mir war zwar schon aufgefallen, dass der Prediger extrem unfroh ist und ganz offensichtlich auch humorlos, aber ich hatte diese Beobachtung beiseitegeschoben. Der Mann ist nicht glaubwürdig, genauso wenig wie Pirsig glaubwürdig ist. Diese Leute wissen es nicht. Danach fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich hatte keine Lust mehr, mir den Rest anzutun. Sie hatte recht.

Ich habe mir noch weitere Zitate aus Luthers Text gemerkt (mit » Evernote, sehr nützlich), beispielsweise das folgende, das sehr gut die Verwirrung bei den Kunstexperten erklärt:

»Aus ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.« Aber das gilt alles äußerlich, von der Erscheinung, und dieser Eindruck verwirrt die vielen Leute, welche schreiben und lehren, wie man gute Werke tun und rechtschaffen werden soll. Aber an den Glauben denken sie niemals, sie gehn dahin, und ein Blinder führt immer den andern, sie martern sich mit vielen Werken und kommen doch niemals zur richtigen Rechtschaffenheit. Von diesen sagt Sankt Paul: »Sie haben einen Schein der Rechtschaffenheit, aber der Grund ist nicht da; sie gehn hin und lernen immer und immer und kommen doch nimmer zur Erkenntnis der wahren Rechtschaffenheit.« - Wer nun nicht mit diesen Blinden in die Irre gehen will, muß auf mehr sehen als auf die Werke, Gebote oder Lehren von den Werken; er muß vor allen Dingen auf die Person sehen, wie die rechtschaffen werden kann. Die wird aber nicht durch Gebote und Werke, sondern durch Gottes Wort, d. h. durch seine Gnadenverheißung, und den Glauben rechtschaffen und selig, auf daß Gottes göttliche Ehre bestehen bleibe, daß er uns nicht durch unser Werk, sondern durch sein gnädiges Wort umsonst und aus lauter Barmherzigkeit selig macht. [...]

Denn wo der falsche Zusatz und die verkehrte Auffassung dabei sind, daß wir durch die Werke rechtschaffen und selig werden wollen, sind sie schon nicht mehr gut und ganz verdammenswert; denn sie sind nicht frei und schmähen die Gnade Gottes, die allein durch den Glauben rechtschaffen und selig macht, und das vermögen die Werke nicht, nehmen sich's aber trotzdem vor und greifen damit der Gnade in ihr Werk und ihre Ehre ein. Darum verwerfen wir die guten Werke nicht um ihrer selbst willen, sondern um dieses bösen Zusatzes und dieser falschen, verkehrten Auffassung willen, die bewirkt, daß sie nur gut erscheinen und doch nicht gut sind; sie betrügen sich und jedermann damit wie die reißenden Wölfe in Schafskleidern. Aber dieser böse Zusatz und diese verkehrte Auffassung sind in den Werken unüberwindlich, wenn der Glaube nicht da ist. Sie müssen in diesen Werkheiligen da sein, bis der Glaube kommt und sie zerstört. Die Natur vermag sie aus eigener Kraft nicht austreiben, ja nicht einmal zu erkennen, sondern sie hält sie für eine köstliche, selige Sache. Darum werden auch so viele dadurch verführt.

a.a.O.

„[...] ein Blinder führt immer den andern, sie martern sich mit vielen Werken und kommen doch niemals zur richtigen Rechtschaffenheit.“

Und ich? Wie habe ich meine Werke geschaffen? Reinen Herzens, wie ein tumber Tor. » Duden: tumb: arglos-unbekümmert, einfältig-naiv. Genau. Und dennoch wirken diese Bilder nicht eigentlich naiv, sondern eher ergreifend, sie sind ernsthaft, sie wollen niemanden auf den Arm nehmen, sich über nichts lustig machen, sondern eher die Wahrheit ergründen.

Was sagen die Kollegen dazu? » Louvre-Probe 193
*   Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog  » Stürenburg 2007

 





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