Wohnungsszenario
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Aber nochmal zu dem Bild: Inzwischen bin ich ja selber ein alter Mann mit erwachsenen Kindern, deren Entscheidungen ich nicht unbedingt billige. Was stört mich daran? Es ist ihr Leben, sie können selber darüber entscheiden, sie müssen es selber verantworten. Aber selbstverständlich möchte ich als Vater, dass ihr Leben gelingt. Ich weiß, dass das nur durch schmerzhafte Erfahrungen möglich ist, aber dennoch leide ich mit ihnen und kann diesen alten Knacker gut verstehen, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, um den jungen Leuten ins Gewissen zu reden. Und die zeigen ja auch, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, obwohl sie vielleicht nicht genau wissen, was nicht in Ordnung ist und auch nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, was der alte Herr da vielleicht will.
Es geht also wieder um die Frage: Wie lebe ich richtig? Das Leben ist zu kurz, um es zu vergeuden, und zu kostbar, um es zu verschwenden. Es handelt sich offenbar um eine höchst ernsthafte und wichtige Angelegenheit, vielleicht die wichtigste Frage überhaupt. Und wo liegt die Antwort? Was ist das richtige Leben?
Da kommt mir noch eine Assoziation: Die paradiesische Szene, wo Gott Adam und Eva ruft und zur Rede gestellt. Nun ist der Alte hier sicher nicht Gott und Adam und Eva waren ja auch nicht bekleidet, aber das will nichts heißen, denn ich illustriere ja auch keine Geschichten. Was sagt denn die Wikipedia dazu? O Überraschung:
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So könnte man also dieses Bild vielleicht deuten als: „Macht keinen Scheiß! Wisst ihr nicht, worum es geht?“ Dazu nun » Raymond Smullyan, den ich anderweitig schon oft genug zitiert habe:
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Eine Zusammenfassung des gesamten Aufsatzes » Is God a Taoist? habe ich in der Pferdezeitung veröffentlicht; daraus folgender Auszug:
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Diese Gedankengänge sind freilich, das gebe ich zu, nicht so richtig christlich. Aber ich lasse mich gerne korrigieren. Was weiß ich schon?
Ich wollte es schon fast dabei bewenden lassen und mich dem nächsten Bild zuwenden, da erinnerte ich mich an das » Massaker in Korea und die doch sehr interessanten Konfrontationen mit den Kollegenbildern.
Überraschenderweise ist dieses bekannte, monumentale politische Gemälde vergleichsweise klein und wirkt gar nicht so monumental, wie man es erwartet. Die Fotos von der Pressekonferenz zeigen dieses Bild monumental, nicht im Vergleich mit anderen Maßstäben: » "Massacre in Korea", 1951.
Ein weiteres sehr bekanntes Bild Picassos, das ebenfalls sehr monumental wirkt und für einen Theatervorhang extrem vergrößert wurde, in Wirklichkeit aber sehr klein ist (»Deux femmes courant sur la plage), wird dort auch ohne jeden Größenvergleich angeboten. Ist das nicht interessant? Warum hat die Journalistin » Kate Fane das gemacht? Welche Informationen hat sie uns dadurch vorenthalten?
Deshalb sind auch die Übersichtsfotos aus Ausstellungen so interessant, so wie hier; zwar kann man so die einzelnen Werke nicht würdigen, bekommt dadurch aber doch ein sehr gutes Gefühl für die relative Wertigkeit.
Man muss sich das vorstellen: Einem riesigen Gemälde gegenüber halte ich normalerweise einen entsprechenden Abstand, damit ich es insgesamt im Blick behalten kann, während mein Auge darauf herumspaziert. Bei einem sehr kleinen Werk hingegen wird der Abstand sehr gering sein, ich habe also ein sehr intimes Verhältnis zu dem Bild. Es ist kein Zufall, dass » Ikonen meist sehr klein sind. Sie sind für die Betrachtung und Versenkung eines einzelnen Gläubigen gemacht, nicht um größere Mengen zu beeindrucken. Sie sollen erheben, nicht klein machen.
Über »Deux femmes courant sur la plage hat sich übrigens » John Berger in seinem Buch » Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso weidlich lustig gemacht. Bei dieser Gegenüberstellung fand ich nun wirklich überraschend, wie monumental und groß mein Bild im Vergleich wirkt.
Da fällt mir die Bemerkung Bergers zu Picassos Paraphrasen nach » Velasquez ein (das Massaker ist ja gewissermaßen auch eine Paraphrase, nämlich zu » Goyas » The Third of May 1808):
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Goyas Bild kann, wie alle seine Arbeiten im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen, erschüttern und ergreifen, aber schon die Paraphrase » Die Erschießung Kaiser Maximilians von Mexiko von » Manet 60 Jahre später ist einfach nur schwach, unbefriedigend, unglaubwürdig, aus zweiter Hand, gar nicht gefühlt, nur leerer Protest.
Gut gemeint halt, wie bei Picasso, aber nicht gut. Man sieht das aber nicht mit der Brille, sondern mit dem Herzen, mit dem Gefühl. Und dazu muss man nicht studiert haben, allenfalls das Leben selbst.
Erstaunliche Beispiele eines extrem schwach ausgebildeten Auges habe ich vor ein paar Tagen durch Zufall entdeckt. Der Spiegel brachte, nicht zum ersten Mal, wie sich aus den Kommentaren ergab, einen Artikel über drei russische Künstler, der kaum anders verstanden werden kann denn als verkappte Marketingkampagne (Robert Ackermann: » Von Beruf Kunstfälscher: Die drei da Vincis von Neukölln, 08.05.2012).
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Das parallele Bild soll immerhin die Seele des Originalkünstlers imitieren. Als Russen müssen sie wohl auch von der Seele sprechen. Und da es sich um Kunst handelt, kann man die Behauptungen ja ohnehin nicht überprüfen. Oder doch?
Immerhin hat sich ein begeisterter Sammler geoutet, der Möbelhändler und Hotelier Gerold Schellstede, der den Brüdern in Großräschen das » „Kunstfälscher Museum Gebr. Posin“ gewidmet hat (» Fotos).
Mit der Bezeichnung geht es ja schon los: Eine Kunstfälschung ist ein krimineller Akt, während die Arbeit der Brüder vollkommen legal ist. Es handelt sich also gar nicht um Kunstfälschungen - wie kann es dann ein „Kunstfälscher Museum“ sein?
Dieser Mann genießt ganz offensichtlich seine Erwerbungen, wie es sich gehört, jedenfalls posiert er in dieser Weise vor der Kamera. Kann daran etwas Böses sein? Natürlich nicht! Es ist nur schade, dass er, wie der Journalist, den Unterschied nicht sehen kann. Und der ist so gewaltig, dass jemand, der die berühmten Kunstwerke wirklich schätzen kann, die hier als Kopien hängen, diese überhaupt nicht genießen könnte, im Gegenteil, es würde ihm eher schlecht werden davor. Und das im Zeitalter der fotografischen Reproduzierbarkeit!
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Warum wirken die beiden Gesichter so völlig verschieden? Warum springt das Gesicht so merkwürdig beim Übergang? Bei einer guten Kopie würde man doch erwarten, dass überhaupt kein Unterschied zu bemerken ist, und wenn überhaupt, dann nur ein ganz unwesentlicher.
Die Überlagerung der beiden Bilder bringt es an den Tag: Die Kopisten sind einem ganz simplen Anfängerfehler aufgesessen: Mund, Nase und Augen sind einfach ein Stück zu hoch angesetzt. Und das wollen die weltweit besten Kopisten sein? Ach du Lieber!
Die Bilder sollen leben und eine Seele haben, aber noch nicht einmal den Blick bekommen sie hin. Das Original schaut einen an, schaut einem gewissermaßen ins Herz, in die Seele, die Kopie hat überhaupt keinen Blick, allenfalls einen verträumten in irgendwelche Fernen. Das ist doch das A und O der Malerei - haben die Jungs denn überhaupt nichts gelernt? Dieses Bild kann gar keinen Kontakt zum Betrachter aufnehmen. Es kann nicht sein Herz erreichen.
Aber vielleicht ist das alles gar nicht so ernstzunehmen. Schellstede ist Unternehmer, und er weiß, wie man ein Unternehmen aufmöbelt. Die Welt will betrogen werden, pflegte mein Vater zu sagen, und warum sollte man das nicht ganz offen tun? Man bietet ihnen Originalkunstwerke russischer Kopisten als Ersatz für die Originale und suggeriert den Leuten, dass sie sich damit etwas Gutes antun. Die Originale in einer hochwertigen Reproduktion, wie das heute ohne weiteres möglich ist und auch seinen stolzen Preis kostet, hätte einfach nicht dieselbe Aura. Die Leute würden zwar einen wesentlich wirklichkeitsnaheren Eindruck des Originals bekommen, aber es wäre eben doch nur eine technische Reproduktion, wenn auch eine ganz ausgezeichnete.
In diesem Zusammenhang wird auch gern der Vergleich zur Musik angeführt. Das Original wäre dann sozusagen die Partitur von Bach, handschriftlich ausgeführt, eine Kopie dieser Partitur wäre dann schon etwas weniger wert, eine mechanische Reproduktion dieser Partitur noch weniger, und eine Aufführung der Musik wäre Interpretation. So wie die Gebrüder Posin meinen, die Originale interpretieren zu können und zu müssen.
Allein der Vergleich hinkt. Die Reproduktion einer Aufführung mittels Schallplatte oder iPod, HiFi-Anlage oder Kopfhörer entspräche der technischen Reproduktion, die Musikinstrumente, der Aufführungssaal, die musikalische Reife des Orchesters würde einem Nachschaffen entsprechen, und tatsächlich gibt es ja keine zwei Aufführungen, die sich gleichen. Ob die Aufführung des Komponisten als das Original gelten darf, sei dahingestellt. Bei verstorbenen Komponisten können wir das nicht wissen, aber es gibt ja genug Komponisten, die im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit gelebt haben und noch leben und ihre eigenen Werke aufführen. Richard Wagner hat damit in großem Stil aufgetrumpft, und es hat lange gedauert, bis man sich von seinem Vorbild gelöst hat.
Bei der Musik und dem Theater ist gerade die Interpretation durch die Brille der Gegenwart, durch das Instrument der lebendigen Interpreten das Interessante, während in der Malerei nur das Original zählt, nicht die Interpretation. Wenn das Original schon nichts taugte, will es niemand interpretieren, und umgekehrt kann keine Interpretation dem Original das Wasser reichen. Die technische Reproduktion hingegen eröffnet die interessantesten Möglichkeiten.
Die Frage ist nur, ob das Publikum dies verstehen würde. Insofern hat Schellstede die richtige Konsequenz gezogen: Russische Kopisten, Handarbeit, Ölfarbe, Pinselstrich, Genialität (ob der Schöpfer oder der Kopisten, sei dahingestellt), dies versteht auch der, der von Kunst nichts versteht. Und wenn man ein bisschen Marketingsprech einwirft, blickt sowieso keiner mehr durch, dann sind die Werke der Kopisten eben genialisch.
Im übrigen kann ja vermutlich keiner die ausgestellten Werke mit den Originalen vergleichen. Das ist wie im HiFi-Laden: Wenn man nicht zwischen der einen und der anderen Anlage hin- und herschalten kann, ist man nicht oder nur mit extrem viel Erfahrung und Sachverstand in der Lage, die Qualität zu beurteilen. Wer die kopierten Werke hingegen gut kennt und mit den Kopien konfrontiert wird, dem kann dann ganz anders werden, der ist nicht zu beeindrucken.
Der Unterschied zwischen einer sehr guten technischen Reproduktion und dem Original sollte mit fortschreitender Technik hingegen immer geringer werden, so wie bei der HiFi-Technik. Das Original wird immer einen nicht einholbaren Abstand behalten, das steht außer Frage, und insofern wird das Original niemals ersetzbar sein, genauso wenig wie ein lebendiges Konzert deutlich eine Konserve ersetzt werden kann. Trotzdem möchten wir doch die Konserven nicht mehr missen.
Der Name „Kunstfälscher Museum“ ist wahrscheinlich ganz bewusst gewählt, das macht sich als Werbung einfach viel besser (die Kopisten operieren vermutlich aus demselben Grund mit dem Begriff Fälschung: » KUNSTSALON POSIN).
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Seine Auslassungen über die Genialität der Gebrüder Posin ist vermutlich auch viel weniger naiv als man denkt, sondern eher ganz klug berechnet. Außerdem: So ein Hotel muss ja auch ausgestattet werden, auch mit Bildern, und das kostet in jedem Fall, auch wenn der üblichen Kitsch aufgehängt wird. Da kann man sich als Gast über solche Bilder wahrscheinlich eher freuen. Vielleicht wird das Hotel schon deshalb einmal berühmt, und wenn es aus dem Grunde wäre, dass einem dort die Augen geöffnet werden für die Qualität der Originale, wäre es sogar sehr lobenswert und fantastisch, pädagogisch äußerst wertvoll.
Wenn man sich vor Augen führt, was sich Hotels so alles einfallen lassen, um den Gast zu ködern: » Zu Besuch in Hamburg: Hotel ahoi!, Fotostrecke zum Artikel: » Neue Hotels in Hamburg: Backpackerbude und Designerzimmer.
Genau. Man muss nur ein bisschen suchen:
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Und noch etwas profaner:
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So schnell wird man also vom Unternehmer zum „ausgewiesenen Kunstkenner und -sammler“; im Video berichtet er ganz treuherzig, die drei seien typische Künstler, was man ja schon daran sehe, dass sie nachts arbeiten. Ja sowas! Das ist ja ein wahrer Kunstkenner! Der weiß ja wirklich Bescheid! Und weil er anscheinend sonst nichts Interessantes weiß, führt er diese bemerkenswerte Besonderheit auch noch lang und breit aus. Viele alte Meister hätten das ja auch so getan. Ja klar, vor allem weil das Licht vor dem elektrischen Zeitalter in der Nacht ja auch immer so besonders bemerkenswert war. Vermutlich sind auch die alten Meister deshalb so dunkel. Vielleicht liegt dort das Geheimnis der Rembrandtschen Malerei verborgen: Der Mann hat nachts gemalt, so einfach ist das!
Interessant finde ich auch, dass nicht die Qualität der Arbeiten ihn zu der Idee eines Museums bewogen haben, sondern der Anklang beim Publikum. Der Mann versteht einfach was vom Verkaufen. "Wenn man so malt wie die Brüder, hat das schon etwas von einem Genie", lässt der Spiegel ihn sagen.
Mag sein; kommt darauf an, was man unter Genialität verstehen will. Üblicherweise versteht man das Vermögen der russischen Brüder als Kunstfertigkeit, und das mag man bewundern, aber es ist doch nur Kunsthandwerk.
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Die Überlagerung zeigt, dass die Künstler hier mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie bei Klimt. So wird unmittelbar klar, was hier eigentlich die Probleme sind: Das Gesicht des Hauptmanns ist viel zu groß, wodurch auch der mittlere Kopf zu hoch sitzt.
Wichtiger als die Übereinstimmung in den Proportionen ist aber der Ausdruck, und den kann man doch ganz gut beurteilen. Dieser Ausdruck kann sehr schnell sehr peinlich entgleisen, wie schon das Klimt-Beispiel oben zeigte.
Der eigentliche Zauber dieses Bildes lässt sich nicht einfangen, das hätte vermutlich Vermeer selber gar nicht gekonnt. Insofern ist es mir völlig unverständlich, wieso sich Leute damit wohlfühlen, zu kopieren, wie auch aus den Kommentaren zum erwähnten Spiegelartikel deutlich wird. Natürlich kann man bei einer Kopie sehr viel lernen, dagegen ist gar nichts einzuwenden, aber die Kopie ist in der Regel um soviel schlechter als das Original, dass man damit gar nicht zufrieden sein kann, wenn man ein Auge besitzt.
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In dem Artikel »Aus Shenzhen berichtet Martin Paetsch: » Chinesisches Kunst-Werk: Van Goghs vom Fließband« wird den chinesischen Fließbandarbeitern bescheinigt, dass sie nicht in der Lage wären, eigene Bilder hervorzubringen. Und auch bei den Russen muss man es bezweifeln; die Serie von Paraphrasen über die Mona Lisa »» Ohne Augenzwinkern, aber mit Ironie: Interpretationen der "Mona Lisa" von Leonardo da Vinci« in der Fotostrecke » Neuköllner Kunstfälscher-Brüder Posin: Serienweise falsche Meisterwerke sind einfach nur furchtbar.
Man erkennt den Unterschied natürlich am ehesten durch den Vergleich; wenn man den nicht hat, weil man das Original nur oberflächlich kennt, könnte man immerhin loben: „Ganz gut getroffen“. Aber das ist schon zu viel, wie man leicht anhand dieser beiden Aufnahmen erkennen kann: » Jan Vermeers "Das Mädchen mit dem Perlenohrring", » Kopie von Leonardo da Vincis "Mona Lisa": Ein Sammler wartete mehr als drei Jahre auf eine Kopie des Meisterwerks..
» Posin: Rote Rehe II kommt mir natürlich sehr bekannt vor, weil ich dieses Bild selber kopiert habe, als Schüler, nach einer Vorlage in der Schülerzeitschrift „Liliput“ (siehe auch » 153). In dem erwähnten » Video steht der Sammler mit dem Rücken zu dem größten bekannten Bild » Holbeins: » Die Gesandten (siehe Videostill oben).
Die Informationen in der Wikipedia zu diesem Bild sind schon ganz nett, aber in den beiden Aufsätzen Hans Holbein d. J.: Die Gesandten (Jean de Dinteville und Georges des Selve und holbein die gesandten • Veronika Bachleitner des Musischen Gymnasiums Salzburg erfährt man eine Menge mehr.
Unter anderem Einzelheiten, auf die man wohl nie stoßen würde, wenn man nicht direkt vor dem Gemälde steht. Wenn der Spiegel fabuliert, die Russen würden viel Mühe auf die penible Malweise Vermeers verwenden, fragt man sich, wie deren Kopie Holbeins wohl mit diesen Einzelheiten umgegangen ist.
Glücklicherweise verfügen wir heute durch » Google Art Project über hochauflösende Reproduktionen und können extrem weit in dieses Gemälde hineinfahren: » The Ambassadors. So kann man sich überzeugen, dass tatsächlich eine Saite der Laute gerissen ist, dass man die beiden Lieder Luthers aus dem Gesangbuch, das erst einige Jahre zuvor auf den Markt gekommen war, wirklich lesen und identifizieren kann.
Die versteckten Bedeutungen, die » John David North herausgefunden haben will, sind wie die historischen Hintergrundinformationen ebenfalls hochinteressant und aufregend, mögen sie nun zutreffen oder nicht, aber ziemlich bald stellt sich doch die Frage, ob es sich bei einem solchen Werk wirklich um Kunst handelt oder nicht vielmehr um Kunstfertigkeit, um Kunstgewerbe. Holbein lässt den Betrachter vor Ehrfurcht erzittern, und zugleich wird einem kalt angesichts der offensichtlichen Empfindungslosigkeit dieses Mannes. Haben seine Figuren nicht mehr mit denen im Wachsfigurenkabinetten zu tun als mit lebendigen Menschen?
Die Brüder Posin haben diese Gefahr der Sterilität jedenfalls sehr deutlich erkannt, denn sie betonen, dass ihre Bilder leben, dass sie eine Seele haben - ob das nun stimmt, ist eine andere Sache. Sie wissen aber, dass dies eine notwendige Bedingung für ein großes Kunstwerk ist. Bilder müssen uns stark ergreifen, extreme Bewunderung reicht bei weitem nicht aus. Dieser Unterschied ist vermutlich ganz ähnlich dem, auf den » Simon Sinek immer wieder hinweist, den Unterschied zwischen Verlässlichkeit und Vertrauen nämlich.
Zufällig habe ich gerade in dem Buch » The Art Instinct: Beauty, Pleasure, & Human Evolution von » Denis Dutton über die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, gelesen, die mit mehr oder weniger starker Gewissheit bei jedem Kind im Alter von zwei entsteht und mit fünf Jahren voll ausgebildet ist (S. 119 ff.). Wenn das nicht passiert, spricht man von mehr oder weniger starkem » Autismus. Vielleicht war Holbein wirklich dieser Hinsicht beeinträchtigt? Seine Bilder können nicht ergreifen. Es kommt nicht darauf an, mit Fleiß und Akribie zu glänzen, den Intellekt zu beeindrucken, man muss das Herz treffen, das Gefühl.
Aber vielleicht habe ich Holbein doch unrecht getan, weil ich mich von der Begeisterung anderer für seine technischen Fähigkeiten habe blenden lassen. Das eigentlich Beeindruckende an seinem Bild sind gar nicht die technischen Details, die Attribute, die versteckten oder offensichtlichen Hinweise, sondern vielmehr das Ruhen der beiden Männer in sich selbst, die trotz des offensichtlichen Reichtums bescheidene Selbstgewissheit der Freunde, die tiefe Verbundenheit, die trotz des großen Abstands sichtbar wird, obwohl sie nicht sich anschauen, sondern den Betrachter.
Die Hinweise auf den Tod, insbesondere der durch den Zerrspiegel überdeutlich ins Bild gesetzte Totenkopf, der zweifellos einen extrem störenden Faktor darstellt, mögen diese eigentümliche Stimmung der Entrücktheit untermauern. Sie begründen sie nicht, man könnte sie weglassen. Mit diesem Bild werden, wie überhaupt bei jedem Bild Holbeins, existenzielle Fragen gestellt, im Grunde immer dieselben: Wer bin ich, was mache ich hier, wie verhalte ich mich, damit ich damit leben kann?
Natürlich wissen die Menschen seit Ewigkeiten, dass sie sterben müssen, und trotzdem haben wir alle immer wieder die größten Probleme damit, uns diese Tatsache vor Augen zu führen. Keiner will es so recht wahrhaben, dass auch er sterben muss, insbesondere die Jugend scheint das Gefühl zu haben, unsterblich zu sein, unverletzlich, unbesiegbar. Die Menschen, die Holbein malt, wissen alle, unabhängig von Alter, Stellung und Geschlecht, dass sie sterben müssen, wie immer sie damit umgehen, dieses Gefühl durchdringt sie, es bestimmt ihr ganzes Sein.
So sind Holbeins Bilder vielleicht auch Meditationsvorlagen, die die Seele zu sich selbst führen können, zu dem, was wichtig ist, was bleibt, was im Angesicht Gottes Bestand haben kann. Dennoch geht Ihnen jedes Drama und Tiefe ab, was man besonders leicht erkennt, wenn man seine Bilder mit denen Rembrandts vergleicht, der nun auch gerade in technischer Hinsicht das genaue Gegenteil gewesen ist und seine Bilder eher mit der Maurerkelle als mit dem Pinsel gemalt zu haben scheint.
Von » Rembrandt war ja nun schon reichlich die Rede, die Brüder Posin wurden immer wieder als Rembrandts bezeichnet, da sollte ich mir doch ein Herz fassen und in meinen imaginären Museum die Nachtwache aufhängen (ich habe dabei die Version von Google Art Project verwendet, in der Annahme, dass diese als extrem hochauflösende Reproduktion mit großem Anspruch besonders naturgetreu ist; sie ist vergleichsweise unbunt):
Nun muss man allerdings bedenken, dass sich im oberen waagerechten Viertel des Bildes überhaupt nichts abspielt, das unterste waagerechte Viertel reichlich uninteressant ist und die beiden äußeren senkrechten Viertel auch nicht gerade atemberaubend sind:
Um die Inszenierung richtig würdigen zu können, muss man sich vorstellen, dass man in gehörigem Abstand vor dem Sofa steht, etwa auf Augenhöhe mit 174, und die Wand sich endlos nach oben erstreckt. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, kann man sich dem Original im Museum gar nicht nähern; man wird mehrere Meter auf Abstand gehalten.
Schade, dass das in Aussicht genommene Projekt extrem großer Bilder für die Villa Zanders nicht zustandegekommen ist - es wäre interessant gewesen zu sehen, was ich mit solchen Dimensionen anzufangen gewusst hätte. Dabei hat es an sehr großen Bildern ja sowieso nicht gefehlt. Eine Fläche einfach nur so zu verbraten, hätte ich als unbefriedigend empfunden. Für mich muss ein Bild in allen seinen Teilen gleichmäßig gut sein.
Man vergleiche das beispielsweise mit der nebenstehenden Radierung, die übrigens auf einen hochinteressanten Trick zurückgreift. Ein Teil der senkrechten Linien, insbesondere bei der erst angedeuteten Kuppel in der Mitte des Bildes, ist leicht schräg nach rechts geneigt. Wäre das bei allen Senkrechten der Fall, wie das sehr leicht bei der Fotografie passiert, wäre das Auge noch in der Lage, hier tolerant zu korrigieren.
Einige architektonische Linien sind aber tatsächlich senkrecht, und bei anderen ist der Fall noch verzwickter, etwa bei den Säulen rechts, die sich verjüngen und daher die Schräge der vermutlich ganz bewusst verzeichneten Linien aufgreifen, tatsächlich aber doch senkrecht sind und diesen Effekt nur der Verjüngung verdanken. So bekommt das Bild eine unglaubliche Dynamik.
Es scheint sich um einen ersten Zustand zu handeln, weitere Zustände sind nicht bekannt, nach rechts wird die Zeichnung immer dünner, aber schon im ersten Ansatz ist die Charakterisierung der Persönlichkeiten umwerfend, wie der Ausschnitt belegt. Rembrandt braucht keine Ölfarbe, um Leben zu schaffen, Schicksale zu beleuchten, Lebenserfahrung aufscheinen zu lassen.
Das » Rijksmuseum besitzt übrigens drei Abzüge von dieser Platte und einen » Gegenabzug (» Suche rembrandt mordechai triomf) - ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. So sieht man, wie Rembrandt die Zeichnung angelegt hat. Im Druck erscheint diese ja dann seitenverkehrt. (Zur Geschichte, die hier illustriert wird, siehe » Königin Ester und » Haman.)
Es ist immer wieder verblüffend, wie unterschiedlich Bild und Spiegelbild wirken können, und doch gewöhnt man sich dann an das Spiegelbild, so dass das ursprüngliche Bild auf dem Druckstock seitenverkehrt erscheint. Kunsthistoriker haben sich immer wieder viele Gedanken über die Richtung in einem Bild gemacht - dieses Phänomen ist aber meines Erachtens nicht in Bezug auf Druckgrafik untersucht worden, und ich wüsste auch nicht, dass jemals ein Künstler sich bei der Anlage der Zeichnung Gedanken um dieses Phänomen gemacht hätte - aber was weiß ich schon? Auf mich trifft das jedenfalls zu.
Ein weiteres Beispiel für den Einsatz architektonischer Weite und zugleich seiner Fähigkeit, mit einfachen Strichen Dramatik und Gefühl hervorzurufen, zeigt die Grablegung. Bei diesem Ausschnitt kann man sehr deutlich sehen, dass die Striche keinerlei Modulation haben, sie sind vollkommen gleichmäßig geätzt, im Vergleich mit dem » Mordechai vollkommen primitiv, und trotzdem steht die ganze Person vor uns:
Aber zurück zur Nachtwache: Die mittlere Waagerechte geht genau durch die Augen des Hauptmanns, aber da das Bild ursprünglich größer war und oben, links und rechts beschnitten worden ist, war das zunächst nicht so, wenn man den zeitgenössischen Kopien Glauben schenken will (und es gibt keinen Grund, dies nicht zu tun):
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Insgesamt wird aber auch deutlich, dass dieses Bild für Rembrandt nur eine Auftragsarbeit war. Die Personen bleiben ähnlich oberflächlich wie bei Holbein, wobei auch noch die existenzielle Dimension wegfällt. Eigentlich hat er die Egozentrik der Menschen herausgestellt, die Oberflächlichkeit, die Ruhmsucht, den Drang nach Nähe und Zugehörigkeit; neben der damals anscheinend schon nicht mehr vorhandenen militärischen Bedeutung dieser Zusammenschlüsse war dies wohl der eigentliche Grund für die Mitgliedschaft in einer Kompanie.
Die religiösen Bilder hingegen zeigen, was Rembrandt selbst wirklich wichtig war. Die Sorge um sein Seelenheil, die Frage nach dem richtigen Leben im Angesicht des Todes, der Wunsch nach Nachfolge, nach dem wahren Verständnis der christlichen Botschaft. So etwas kann man nicht kopieren, das stellen sich die Posins zu einfach vor.
Aber geht es nicht darum auch in meinen Bildern, in diesem Bild 174? Die rote Farbe im Hintergrund muss sicher als Signal für die Dringlichkeit dieser Fragen gesehen werden. Lassen wir das Bild also zum Schluss noch mal allein auf uns wirken:
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Nachtrag, 31.05.2012
Nach den Erfahrungen bei » Nr. 172 Geometrie und » Nr. 176 Geometrie (Obwohl die Konstruktionen hier nicht ganz stimmen können, weil ja unten ein Streifen fehlt):
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Da das Picasso Project seit spätestens 24.01.2011 gesperrt ist, führt ein direkter Link nicht mehr zum Ziel; daher bin ich gezwungen, die erwähnten Werke hier zu reproduzieren und berufe mich dabei auf » Fair Use bzw. das » Zitatrecht.
Rahmen wie hier gezeigt können bei » Kunstkopie, » artoko und anderswo erworben werden.