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Bei Nummer 172 fing es zwischenzeitlich an zu regnen, aber dafür fand ich eine gute Lösung. Unser VW-Käfer stand in einem Verschlag aus Wellblech; ich holte ihn heraus und hatte damit einen Unterstand.
Es war zwar etwas eng, aber ich konnte weitermalen und blieb trocken. Ich erinnere mich sogar noch an die Stimmung in diesem Versteck, nicht drinnen, nicht draußen, geschützt und frei.
Ich war vollkommen sorgenfrei, entspannt, und fühlte mich leicht und geborgen, trotz meiner vorausgegangenen Niederlage. Und da dämmerte mir, dass ich Maler werden müsste. Darüber hatte ich gar nicht nachgedacht, diese Erkenntnis kam mir einfach.
Seit 10 Jahren hatte ich, wie das wohl jeder junge Mensch tut, nach meiner Aufgabe im Leben gesucht, mich immer mal wieder gefragt, warum ich auf der Welt bin. Ich hätte alles mögliche werden können, vielleicht auch Professor für Mathematik und bestimmt Studienrat, aber alles das konnten andere Leute auch und vermutlich besser. Diese Bilder aber konnte nur ich malen, niemand sonst. Das war mir plötzlich sonnenklar. Und sie waren es unbedingt wert, gemalt zu werden.
Die Durststrecke war zu Ende. Endlich hatte ich meine Bestimmung gefunden! Und zugleich bekam ich einen riesigen Schreck. In meiner Familie galt ein Künstler als Hungerleider, und das wollte ich nicht werden. Also hatte ich nichts anderes im Sinn, als diese Einsicht schnellstmöglich wieder zu vergessen.
Bei der Paraphrase zu „Frauen in Algier“ hatte das Interieur mich überfordert. Bei diesem Bild gibt es viel Interieur, und es ist überall wunderbare Malerei. Als Illustration für einen Artikel habe ich einmal nur die Fenstergriffe und ein Stück Gardine herausgeschnitten - köstlich. Was diese Frau da eigentlich tut, was das Bild bedeutet, wollte ich gar nicht wissen. *
Ich fand das Bild einfach überwältigend und gut und war mir überhaupt nicht darüber im klaren, was dessen Qualitäten eigentlich sind. Die genannten malerischen Qualitäten habe ich erst bei dieser Gelegenheit fast 24 Jahre später bewusst wahrgenommen.
Ich habe mich ja immer wieder über den Begriff der Qualität ausgelassen und mich dabei im wesentlichen auf » Robert Pirsig und sein Hauptwerk » Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten berufen; Pirsig behauptet, dass man Qualität nicht definieren kann, sie aber sehr wohl zweifelsfrei erkennt. Die offensichtlichen Unterschiede in der Beurteilung von Qualität erklärt er durch unterschiedliche Erfahrungen der Urteilenden. Vor einigen Jahren habe ich dann noch einen Aphorismus von » Ernst Gombrich gefunden, der dieselbe Einsicht knapp und klar ausdrückt:
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Gerade bei diesem Beispiel liegt auf der Hand, dass man zwar die Qualität von Weinen unterscheiden kann, diese jedoch sprachlich nicht adäquat zu fassen ist. Bei der Musik war mir das 1974 schon geläufig: Ich hatte mich von meinem Freund » Jörg Raasch in den modernen Jazz einführen lassen, sparte jeden Monat 20 DM, zweimal im Jahr trafen wir uns und dann ging ich mit ihm in ein Musikgeschäft, wo wir uns einige Platten anhörten und ich dann nach seinem Rat folgte.
Vieles war mir einfach zu schwer und er empfahl mir, es öfters zu hören und wies mich auf die Stellen hin, die nach seinem Urteil besonders gut waren. Das war eher ein Gestammel, so nach der Art „pass auf, gleich kommt's, hier!“. Und ganz ähnlich machte das » Erich Engelbrecht, als er mir die Qualitätsunterschiede im Spätwerk Picassos anhand des Buches » Klaus Gallwitz: Picasso Laureatus. Sein malerisches Werk seit 1945 deutlich machte: Er fuhr mit dem Finger auf den Abbildungen herum und sagte „das ist gut, das ist hervorragend, das ist ganz schlecht, das hier ist ja furchtbar“.
Was ist da los? Was passiert da? Wir schauen beide auf dieselbe Abbildung und nehmen völlig unterschiedlich wahr. Oder wir hören beide dieselbe Musik und doch nicht dasselbe.
Die Sprache ist da sehr präzise. Am besten kann man das im Vergleich mit einer Fremdsprache deutlich machen. Die Engländer unterscheiden zwischen hear und listen. Beides kann man mit hören übersetzen, aber dann wird der Unterschied nicht deutlich. Hear bedeutet hören im Sinne von vernehmen, akustisch wahrnehmen, also mehr oder weniger den Schalleindruck zur Kenntnis nehmen. Listen hingegen bedeutet lauschen, hinhören, zuhören, anhören, bezeichnet also den Vorgang des Verstehens, Einordnens, Empfindens, der durch den Schalleindruck ausgelöst wird.
Der Schalleindruck kann physikalisch vollständig beschrieben werden; qualitativ besteht aus physikalischer Sicht kein Unterschied zwischen dem Schalleindruck einer Symphonie von Beethoven und dem Lärm eines Hauptbahnhofs zur besten Verkehrszeit. Für das Verstehen, Einordnen und Empfinden könnte der Unterschied nicht größer sein. Und auch zwischen verschiedenen Musikrichtungen bestehen sehr große Unterschiede, man muss dabei noch nicht einmal an den Unterschied zwischen E- und U-Musik denken, schon der Unterschied zwischen der sogenannten klassischen Musik und der modernen Musik, die selbst nach hundert Jahren von den Konzertbesuchern nicht geschätzt wird, ist schlagend.
Für den Test von HiFi-Anlagen benutzt man physikalische Methoden, aber die reichen nicht aus, die werden eigentlich nur interessant im Hinblick auf die Erklärung unterschiedlicher Höreindrücke, die nun nicht mit sinnlosen Geräuschen, sondern mit hochwertiger Musik gewonnen werden. Hier entscheidet das Ohr des Kenners, nicht der Apparat des Physikers.
Was für die Musik gilt, gilt auch für die Kunst. Im Gegensatz zur Musik hat allerdings die moderne Kunst einen überwältigenden Erfolg errungen. Nicht nur die angewandten Kunstrichtungen, also Werbegrafik, Illustrationen, Plakatkunst, Karikatur usw. gehen frei mit den Errungenschaften der modernen Kunst um und sind ohne sie gar nicht denkbar, auch als Bereicherung der Umgebung, im Büro oder zu Hause, erfreut sich die moderne Kunst großer Beliebtheit. Man kann keinen Arzt mehr besuchen, ohne mit moderner Kunst konfrontiert zu werden.
Auch bei der Kunst kann man den Unterschied sprachlich nachweisen, auf den ich eben bei der Musik hingewiesen habe: Die Engländer unterscheiden zwischen see und look. Look bedeutet sehen im Sinne von blicken, kucken, schauen, also einfach den optischen Sachverhalt zur Kenntnis nehmen, ohne ihn verstehen zu müssen. Kucken kann jeder. See hingegen bedeutet einsehen, verstehen, ersehen, bezeichnet also wiederum den Vorgang der Einsicht, Einordnung und Empfindung. Sehen kann nicht jeder, sehen setzt Erfahrung voraus und Urteilsvermögen, und damit wird man nicht geboren, das muss man sich mühsam erarbeiten, wie überall.
Anscheinend hatte ich mir bis dahin schon sehr viel erarbeitet, so dass ich nicht nur sehen konnte, was gut ist, sondern solches auch produzieren konnte - allerdings hatte ich verständlicherweise nicht genug Selbstbewusstsein, mir darauf viel einzubilden. Natürlich ist ein solches Bild ohne die Schule Picassos nicht denkbar - aber ist das schlecht? Muss man einen eigenen Stil entwickeln, wenn man den Vorwurf des Epigonentums vermeiden möchte?
Picasso selber hatte offenbar gar keine Angst davor, überall zu klauen und auch ganz deutlich werden zu lassen, wo und wie er geklaut hat. Er beklaute nicht nur seine Zeitgenossen, die ihn deshalb fürchteten (vermutlich hatten sie wenig und ihre Furcht war nicht ganz unbegründet), sondern die gesamte Kunstgeschichte von der Steinzeit über die alten Griechen bis heute. Nur mit der akademischen Maltradition hatte er es nicht, selbst seine sogenannte klassizistische Periode verdankt der antiken Freskenmalerei mehr als der Europäischen Ölmalerei.
Man muss nicht nur keinen eigenen Stil entwickeln, man darf gar keinen eigenen Stil entwickeln wollen, denn der wäre ja aufgesetzt und deshalb unecht und nicht überzeugend. Nein, der eigene Stil entwickelt sich von ganz allein, darum muss man sich überhaupt nicht kümmern, denn der Maler ist ja einzigartig, so wie jeder Mensch absolut einzigartig ist, noch nie da gewesen und nie wiederkehrend. Je mehr der Maler er selbst wird, desto mehr bildet sich von ganz allein heraus, was er ist und was er sagen kann.
So ist es gar keine Frage, dass Menschen, die Picasso kennen, bei meinen Bildern zuerst an Picasso denken. Aber je besser sie Picasso kennen, desto deutlicher wird ihnen, dass Picasso meine Bilder nie hätte malen können. Meine Bilder sind vollkommen einzigartig, nicht einmal ich selbst könnte sie je wiederholen. Wenn ich nicht so große Bedenken wegen der » Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst hätte, würde ich natürlich gerne meine Bilder nach Lust und Laune neben Picassos hängen, aber vor 10 Jahren habe ich schon einmal eine Attacke dieser Gangster mühsam abwenden müssen und schließlich kleinbeigegeben, darauf habe ich keine Lust. Wenn ich mich nicht auf das Zitatrecht berufen kann, werde ich das hübsch bleiben lassen.
Da fällt mir etwas ein: Eigentlich wollte ich ja über Qualität schreiben und habe oben Ausschnitte präsentiert, um auf die malerische Qualität hinzuweisen. Das muss ja wohl erlaubt sein; ich werde mal versuchen, ähnliche Ausschnitte aus Picassos Werken zu zeigen. Damit komme ich zu meinem Recht und bleibe unangreifbar.
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Welche Überraschung! Ich habe diesen Picasso ganz zufällig ausgewählt - das Bild lief mir im Internet in der nötigen Auflösung über den Weg und schien von der Thematik und Wucht zu passen. Und jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen, wo ich das eine links und das andere rechts platziert habe: Meine Frau sitzt da ja ganz ähnlich wie die rechte von Picasso!
Diesen Picasso habe ich damals mit ziemlicher Sicherheit schon gekannt und sehr bewundert und studiert. Man sieht, wie satt er die Farben aufgetragen hat, und vielleicht war dieses Bild Vorbild für die Malszene in dem Film » Mein Mann Picasso - jedenfalls sind die Farben und die Kontraste und die Technik der Übermalung verblüffend ähnlich.
Beim erstmaligen Anschauen auf der großformatigen Kinoleinwand war ich jedenfalls ziemlich beeindruckt; wenn man genauer hinschaut, erkennt man leider, dass die Filmausstatter Picasso bei weitem nicht das Wasser reichen konnten. Aber das bemerkt natürlich keiner, wenn man den Film einfach nur konsumiert. Für die Aussage des Films spielt dieser Mangel selbstverständlich auch gar keine Rolle.
Desto interessanter die Gegenüberstellung hier: Die Farben im Film sind durchweg übel, die Kontraste schauderhaft, der Farbauftrag primitiv, die Zeichnung einfallslos, während alles dies im Gemälde wunderbar und von höchster Qualität ist, raffiniert und delikat.
Picasso hatte jedenfalls keine Angst vor Farben und Formen, und im einzelnen sind die Zusammenstellungen wirklich köstlich, aber insgesamt lässt das Bild doch zu wünschen übrig, und das wird merkwürdigerweise gerade in der verkleinerten Darstellung und im Vergleich zu meinem deutlich. Die Farbigkeit bei Picasso wirkt unangenehm, uneinheitlich, gewalttätig, willkürlich, und diese Attribute kann man durchaus auch auf die Formen anwenden.
Nun kann man natürlich genau das als Tugend herausstreichen, aber es stellt sich doch die Frage, warum er das nötig hatte. Er hat ja » Françoise Gilot ein paar Geheimnisse verraten, die banal genug anmuten: Willkürliche Kontraste (kleiner Kopf auf großem Körper oder umgekehrt), ein Bild sei die Summe von Zerstörungen, man müsse alles Schöne kaputtmachen, ein Bild müsse wirken wie mit Hunderten Rasierklingen gespickt, die Leute würden sowieso nichts von Kunst verstehen, man müsse sie schockieren, wenn man Erfolg haben wolle, und was dergleichen Pseudoweisheiten noch sind.
Allerdings ist mein Bild nun auch nicht gerade angenehm, was die Formen und Farben betrifft. Das Farbspektrum ist sehr viel eingeschränkter und ebenfalls im kalten Bereich angesiedelt; bezüglich der Formen macht das Bild von allen Freiheiten Gebrauch, die die moderne Malerei und vornehmlich Picasso erkämpft hat. Trotzdem wirkt es weniger konfliktbeladen, was nicht am Thema liegt, denn dort ist es genau umgekehrt. In meinem Bild spielen starke Emotionen eine große Rolle, während bei Picasso durch die Figuren eine kontemplative, ruhige Stimmung nahegelegt wird, was dem Chaos der Formen und Farben widerspricht.
Im Sinne der maximalen Irritation des Betrachters wäre ein solcher Widerspruch natürlich erwünscht. Aber was lösen solche Widersprüche, solche Irritationen im Betrachter aus? Wie die Ausschnitte zeigen, ist das Picasso-Bild im einzelnen geradezu bunt, so starkfarbig wie Kirchenfenster, insgesamt aber wirkt es erstaunlich stumpf. Das liegt vor allem an den großen grünen und grauen Flächenanteilen, die mehrfach übermalt worden sind - der Mann konnte richtig dick auftragen und musste am Material nicht sparen.
Vielleicht tut die Miniaturabbildung diesem Bild auch unrecht. Die depressive Wirkung der stumpfen und schmutzigen grüngrauen Flächen kommt bei stärkerer Vergrößerung kaum noch zur Geltung. Ich sollte also mal den Versuch machen, die Bilder in etwas größerer Dimension nebeneinander aufzuhängen. Erstaunlicherweise haben beide Bilder auch noch fast identische Maße, das dürfte ganz interessant werden.
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Als nächstes springt mir ins Auge, dass der Picasso absolut flach und vorne ist, während mein Bild zwar auch flächig gemalt ist, aber dennoch Tiefe hat. Auf den ersten Blick gewinnt immer der Picasso, er ist einfach viel knalliger. Auf den zweiten Blick kann sich mein Bild durchaus halten, und das finde ich erstaunlich, denn Picasso hat das Bild mit 52 Jahren gemalt und hatte schon gut 40 Jahre Erfahrung hinter sich, war Wunderkind und längst als Genie abgestempelt. Wer war ich schon? Ein kleiner Student, der sich seit einem Jahr ernsthaft der Malerei widmete. Und ich male ein Bild, das man neben einen hochkarätigen Picasso hängen kann?
Noch etwas fällt mir jetzt zum ersten Mal auf: Die Rahmen sind alle so beleuchtet, dass das Licht von links kommt. Ich müsste die Lichtverhältnisse an der Wand umkehren, damit das Auge nicht verwirrt wird.
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Man könnte sich natürlich auch eine Beleuchtung für die andere Variante zurechtbasteln: Rechts eine Fensterfront, die die Wand beleuchtet, und zusätzlich von links Spotlights, die jedes einzelne Bild beleuchten, wobei natürlich im Prinzip auch die Wand etwas abkriegen müsste. Die erste Variante gefällt mir besser, sie hat etwas Erhebendes an sich, die zweite wirkt wesentlich profaner.
Nun habe ich beide Bilder schon ein paarmal an der Wand gesehen und der erste Eindruck ist verflogen, die Dominanz des Picasso ist nicht mehr so stark wie zu Anfang. Dafür fällt mir die Absurdität seiner Szenerie umso mehr ins Auge. Bekanntlich hat Picasso seinen Bildern keine Titel gegeben; die stammen also von anderen Leuten und oft haben verschiedene Leute verschiedene Inhalte gesehen und mit einem Titel zu beschreiben versucht.
So auch hier: Die Muse wäre vielleicht zutreffend; dann wäre die zeichnende Frau die Künstlerin und die schlafende ihre Muse. Der zweite Titel beschreibt das Bild nur unzureichend, da er die zweite Frau völlig außer acht lässt und die erste als Mädchen bezeichnet, was sie nun sicherlich nicht ist. Und der dritte Titel ist nun absolut nichtssagend.
Wir können sehen, was die Künstlerin zeichnet. Das sind gerade Striche, ein » Mikado, nicht unbedingt das, was man unter Kunst verstehen würde, wofür man unbedingt eine Inspiration durch eine Muse bräuchte. Oder sollte es sich gar um einen sarkastischen Scherz handeln? Nach dem Motto: Das kommt dabei heraus, wenn eine Muse sich einmischt? Die schlafende Frau nimmt eine Position ein, die für einen Schlaf sehr ungewöhnlich ist. Man kann die Stellung ihrer Beine erahnen, und man fragt sich, wie man auf diese Weise schlafen kann.
Der Künstlerin gegenüber sieht man einen goldenen Bilderrahmen, der möglicherweise ein Spiegel ist, der wiederum einen Bilderrahmen spiegelt, der ein Bild enthält, das nun im Gegensatz zur Zeichnung ausgesprochen geschwungene Linien enthält, gewissermaßen eine atomare Energiewolke. Hinter der schlafenden Frau scheint sich ein Fenster zu befinden, auf dem Tisch, auf den ihr Kopf gesunken ist, steht ganz am Rande eine Blumenvase mit vier ziemlich naturalistisch angedeuteten Blüten und passenden Blättern.
Was soll das? Die Künstlerin scheint in ihre Tätigkeit versunken zu sein und dabei höchstes Vergnügen zu empfinden, und auch die Muse lächelt selig vor sich hin. Sowohl die Zeichnung als auch das Gemälde im Spiegel können nicht als Gipfel der Kunst durchgehen. Macht Picasso sich also über die Kunst selbst lustig? Nichts kann banal genug sein, als dass es nicht als große Kunst gelten könnte, als inspiriert von einer Muse?
Und wenn es von einer Muse inspiriert ist, muss es ja gut sein, oder? Der Künstler als ausführendes Organ, nicht verantwortlich für das, was er tut. » Sigmar Polke hat das 1969 in einer Serie mit dem Titel „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!“ persifliert. So abgesichert, kann der Künstler tun, was er will - es muss einfach genial sein.
Außerdem gibt es noch einen ganzen Haufen Bilder, die die mittlere Figur der zugleich am Tisch schlafenden und am Boden sitzenden Frau variieren. Ich kann mich nur wundern, wie dieser Mann gearbeitet hat. Was hat ihn an dieser Idee so fasziniert? Wie man deutlich erkennen kann, sind die wesentlichen Gegenstände in allen drei Bildern gleich. Der merkwürdige Spiegel mit dem gespiegelten Bild, der Tisch mit der Vase, das Fenster am oberen Rand mit dem Vorhang, und natürlich die beiden Hauptpersonen, wobei anscheinend in den beiden anderen Bildern nicht zu erkennen ist, was die Künstlerin gerade treibt - überhaupt gleichen sich die beiden ziemlich, während das erste Bild einige Besonderheiten zeigt. So ist zum Beispiel die Künstlerin nicht deutlich bekleidet wie in den beiden anderen und die Schlafende zeigt ihr Gesicht, statt es wie in den beiden anderen Bildern zu verbergen.
Hilft uns der Vergleich? Inhaltlich scheint es wenig auszumachen, ob man die Zeichnung erkennen kann oder nicht, ob die schlafende Muse ihr Gesicht zeigt oder nicht, ob die Künstlerin bekleidet ist oder nicht. Die Stimmung ist in allen drei Bildern ähnlich: Die Künstlerin ist selbstversunken, die Muse schläft, es könnte Harmonie herrschen, wenn nicht der Zerrspiegel einen Ausblick auf Unheil bieten würde.
Wie bei Picasso üblich, handelt es sich bei den dargestellten Personen eigentlich gar nicht um Personen, sondern um Masken, um Puppen, um nicht zu sagen Unpersonen, die kein Schicksal haben, keine Vergangenheit und keine Zukunft, keine Beziehungen, keine Gefühle, keine Seele.
Das ist bei meiner Frau deutlich anders. Zwar sind die formalen Freiheiten ähnlich weitgehend, die Farbwahl ähnlich drastisch, aber die Stimmung und die inhaltliche Aussage sind völlig anders. Diese Frau lebt, diese Frau liebt möglicherweise, diese Frau könnte das Weib des Potiphar darstellen, wenn ich ein Historienmaler wäre, wie Rembrandt einer war, der das Thema „Josef und die Frau des Potiphar“ mehrfach behandelt hat.
Bei Rembrandt geht es um das Drama des Geschlechts; ich kenne die biblische Geschichte gar nicht, dafür aber desto besser die romanhafte Nacherzählung » Thomas Manns, der in seiner Romantrilogie » Joseph und seine Brüder auch dieser Episode epische Breite angedeihen ließ.
Ist schon das Phänomen der Liebe und der Verliebtheit unter Umständen existenziell verstörend, und zwar in jedem Alter, wie Thomas Mann in mehreren Novellen ausgeführt hat, beispielsweise die erste Verliebtheit eines kleinen Mädchens, wobei er sich auf eine Beobachtung in seinem eigenen Familienkreis beziehen konnte (» Unordnung und frühes Leid), so muss die Verliebtheit dieser Frau in den legendär schönen und hübschen Joseph geradezu tragische Dimensionen angenommen haben, weil ihr Ehemann aus religiösen und gesellschaftlichen Gründen entmannt worden war, wie Thomas Mann sich einfallen ließ, um diese unerhörte Geschichte nachvollziehbar zu machen, die in der Bibel ganz lapidar und trocken erzählt wird; Einheitsübersetzung: » 1. Mose 39.
Nicht dass die Frau sich dessen laut Thomas Mann nicht bewusst gewesen wäre; sie fand das ganz genauso in Ordnung wie ihr Mann. Und das machte ihr auch gar nichts aus. Bis Joseph in ihr Haus kam und sie ein Opfer von Gefühlen wurde, die sie bis dahin gar nicht gekannt hatte. Dummerweise hatten sich ihre Gefühle an einen Juden geheftet, dem es bei aller schuldigen Zuneigung und unbedingtem Gehorsam auch aus religiösen Gründen unmöglich war, ihren Wünschen zu folgen.
Der dürre Text der Bibel lässt die Frau ganz eindeutig in einem schlechten Licht erscheinen:
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Nach Thomas Mann ist die Frau aber vollkommen unschuldig; sie weiß gar nicht, wie ihr geschieht, sie wird ein Opfer ihres Körpers, der sein Recht verlangt. Und wenn ich nicht selbst einmal solche furchtbaren Gefühlsstürme erlebt hätte, würde ich es nicht glauben, dass so etwas möglich ist - und ich möchte so etwas auch nie wieder erleben.
Dieses menschliche Drama mit Worten oder mit dem Pinsel sichtbar zu machen, ist nicht einfach. Hätte ich mir das vorgenommen, ich wäre verzagt und bestimmt auch gescheitert - abgesehen davon, dass ich damals zwar schon allerhand, so gewaltige Gefühlsstürme noch nicht erlebt hatte.
» Rembrandt hat sich mehrfach mit diesem Thema beschäftigt und in zwei Zeichnungen und einem Gemälde den Augenblick der Verleumdung festgehalten, in einer Radierung den der vergeblichen Verführung, und zwar sehr drastisch, direkt und ungeschönt. Diese Szene ist auch von anderen Malern festgehalten worden, aber niemand hat die seelische Not der beiden Beteiligten so herausarbeiten können, was vermutlich auch daran lag, dass niemand sonst sich in diese Not hat hineinversetzen können.
Mein Bild hat mit dieser Szene natürlich nichts zu tun - Rembrandt wollte die Bibel illustrieren, ich wollte gar nichts illustrieren. Auch nachträglich fällt eine solche Interpretation durchaus schwer - es fehlt die zweite Person, es fehlt vor allem das Beweisstück, mit Hilfe dessen die Frau Josef später verleumden wird.
Dem könnte man noch entgegnen, dass hier ja offensichtlich nicht die Szene nach der Zurückweisung dargestellt wäre, sondern die verlockende Einladung vorher. Und ganz zweifellos bezieht sich die Geste, Haltung und Blickrichtung der Frau auf eine zweite Person außerhalb des Bildes. Im übrigen ist von einer drohenden Zurückweisung noch nichts zu spüren.
Die Assoziation zu Rembrandt verdankt sich lediglich dem Ausdruck seelischer und körperlicher Not, den ich jetzt wohl sehen und schätzen kann, mich aber fragen muss, wieso ich als junger Mann ein solches Bild malte. Ich habe es damals mit Sicherheit nicht in diesem Sinne oder überhaupt verstanden, seelische und körperliche sexuelle Not bei Frauen war mir weder persönlich noch vom Hörensagen noch aus irgendwelcher Lektüre bekannt. Noch Jahrzehnte später hatte ich durchaus Anlass zu fragen, ob Frauen eine solche Not überhaupt empfinden können.
Wie erkläre ich mir dann die Tatsache, dass ich dieses Bild gemalt habe? Es ist ja nicht nur dieses, das Rätsel aufgibt; die einzige Hilfskonstruktion, die mir dazu einfällt, wäre die Existenz einer höheren Weisheit in meiner Seele, die mir etwas vor Augen führen möchte, was ich aus irgendwelchen Gründen nicht erfahren oder zur Kenntnis nehmen kann. So erklärt ja beispielsweise » C.G. Jung das Vorkommen von Träumen, deren Inhalte anderen Leuten bekannt sind, beispielsweise ihm, nicht jedoch dem Träumer selbst.
Laut psychologischer Traumtheorie versucht diese weisere Instanz den Träumer durch den Traum auf Umstände hinzuweisen, die er anderweitig nicht erkennen kann, um ihm zu helfen. Leider ist der Träumer wohl in der Regel nicht in der Lage, diese Hinweise zu verstehen, weshalb er Hilfestellung bei Psychologen suchen muss - der Joseph der Bibel hat sich bekanntlich als Traumdeuter hervorgetan und dadurch seinen Kopf gerettet.
Wenn dem so sein sollte und der Träumer die Botschaft gar nicht verstehen kann, so gut gemeint sie sein mag, könnte das auch bei Bildern so sein? Ich jedenfalls habe diese Aussagen definitiv nicht verstanden. Jemand anders hätte sie vielleicht unmittelbar verstehen und mich auf die offensichtlichen Sachverhalte hinweisen können - dieses Glück ist mir aber leider nicht widerfahren.
Möglicherweise war es aber auch umgekehrt und jeder hat dieses Bild sofort so verstanden und wie selbstverständlich angenommen, dass es mir ebenso klar war, so dass er oder sie keine Worte darüber zu verlieren brauchte. Vielleicht war ich der einzige Naivling in meiner Umgebung und allen anderen war nicht bekannt, wie unbedarft ich war. Immerhin muss man feststellen, dass niemand über die Bilder geredet hat, auch » Engelbrecht nicht. Haben sich alle geschämt?
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Aber verglichen mit der Radierung ist das alles harmlos. Das sind Schilderungen menschlicher Niedertracht, geboren aus Wut und Schmerz über die Zurückweisung, bewusste Handlungen, die schon erahnen lassen, dass die Frau lügt. In der ersten Zeichnung ist diese ebenso wie ihr Mann schon ziemlich betagt, in beiden Fällen reagiert der Mann aufmerksam, aber relativ unbeteiligt und arglos. Immerhin war Josef der erste Mann im Hause, der Hausherr hielt allergrößte Stücke auf ihn, und die Anschuldigung war nicht von Pappe.
In der Radierung aber geht es nicht um gesellschaftliche Fassaden, um Rache und Hass, da geht es um viel elementarere Bedürfnisse, da spricht der Körper aus seinem Urgrund, da kann nichts mehr kontrolliert werden. Insbesondere ist kein Platz für Scham, und das zeigt Rembrandt überdeutlich. Merkwürdigerweise ist die Vulva der Frau rasiert. Und noch etwas ist merkwürdig: Es sieht so aus, als ob sie eine große Narbe oder einen schlecht angewachsenen Hautlappen am Bauch hätte, wie von einer Blinddarmoperation. Hat man so etwas damals schon durchgeführt? Oder ist Rembrandt hier einfach die Nadel ausgerutscht?
Das kann man eigentlich nicht annehmen. Dazu ist diese Form viel zu sorgfältig ausgearbeitet, was etwa im Vergleich mit den Händen des Joseph deutlich wird, die vergleichsweise skizzenhaft anmuten. Man kann sie auch nicht als Chiffre für das Bettlaken nehmen. Die Frau hat ihr Gewand hochgeschoben, um gar keinen Zweifel an ihrer Absicht aufkommen zu lassen, und man kann nur mutmaßen, wie die Situation eingefädelt wurde. Hier jedenfalls sieht man, dass Joseph sich abwendet und fliehen will und sie sich an seine Jacke klammert und sie ihm dabei auszieht.
Beide sind nicht gerade schön und auch nicht hübsch - von Joseph wird das ja ausdrücklich in der Bibel so formuliert, und Thomas Mann hat sich lang und breit darüber ausgelassen, was das bedeutet und wie man sich das vorstellen muss. Die beiden sind so Rembrandt-typisch hässlich, dass man sich fragen muss, ob Rembrandt eine andere Art von Schönheitsempfinden hatte. Gerade seine Frauenakte sind ja oft so wie hier, sehr realistisch und vom Typ her genauso einheitlich wie die ebenfalls sehr eigenartigen Frauentypen von » Cranach oder » Rubens.
Die Sache mit der Kleidung steht so in der Bibel - der Rest ist die Erfindung von Rembrandt. In der Bibel steht nichts davon, dass sie im Bett gelegen hat und ihr Gewand hochschob und darunter nackt und rasiert war. Aus der Bibel kann man nur entnehmen, dass die beiden normalerweise nicht allein waren; wohl konnte sie ihm ihr Anliegen antragen, aber handgreiflich werden hätte sie nicht können, deshalb musste sie warten, bis eines Tages das Gesinde aus dem Haus war. Das sind die Fakten der Überlieferung.
Und bei mir? Es ist wie mit den Träumen - im Regelfall kann man nicht erkennen, wie sie mit dem realen Leben zusammenhängen. Zwar mag es wohl so sein, dass der Traum gewisse Einzelheiten des Vortages benutzt, als Aufhänger gewissermaßen, aber ansonsten ist er völlig unabhängig. In diesem Sinne ist Picasso ein Aufhänger. Man kann nicht erkennen, auf welches Bild von Picasso sich dieses Bild bezieht, man kann noch nicht einmal im einzelnen seine Formsprache oder seine Farbwahl wiedererkennen, und dennoch wäre dieses Bild ohne Picasso gar nicht denkbar. Faktenmäßig kann ich nichts beisteuern, was zur Aufklärung beitragen könnte.
Nun möchte ich doch dieses Bild mit 169 zusammen an der Wand sehen, und dann auch noch mit seiner Rückseite.
Diese Präsentation würde in einem Museum ganz gut passen; aber so wohnt man ja nicht. Wenn im Fernsehen oder im Film reiche Leute gezeigt werden, dann sieht das vielleicht so aus:
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Das Problem mit den Inneneinrichtern ist, dass sie kein Verhältnis zur Kunst haben. Sie entwerfen Wohnumgebungen, deren einziger Zweck es ist, Möbel und Stoffe und sonstige Dekorationsobjekte zu verkaufen. Kunst kann da eigentlich nur stören. Deshalb werden an den Stellen, wo man nun absolut nicht drumherum kommt, etwas aufzuhängen, mit Vorliebe kleine Grafiken, von denen man gar nichts erkennen kann, mit einem riesigen Passepartout platziert: Fertig! Kunst wird woanders verkauft.
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Wo die Wand zu klein ist, wie im obigen Beispiel mit dem Musikzimmer, kann man einfach ein großes Bild nicht aufhängen. Die einzige Wand ist die Fläche über dem Kamin, und da passt 172 definitiv nicht hin. Vielleicht gibt es in diesem Zimmer im Rücken des Fotografen noch größere Wände, aber im Blickfeld sind nur Fenster und Mauerdurchbrüche und eben diese kleine Wand über dem Kamin.
In einem Schlafzimmer kann man die Kopfpartie des Bettes sehr hochziehen, so dass auf die Wand darüber ebenfalls nur noch ein kleines Bild passt, und im übrigen kann man die kahle Wand noch durch Leisten gliedern.
Bilder? Kunst? Wozu? Das ist das Problem des Kunden, darum muss der sich kümmern. Wenn der nun absolut Kunst haben will, bitte sehr - sein Problem. Soll er doch sehen, wo er was aufhängen kann.
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Ist allerdings schon merkwürdig, dieses Bild über einem Doppelbett hängen zu sehen. Ich würde vermutlich auch noch rechts und links was aufhängen. Mal sehen, was wir da so haben.
Nach psychologischen Theorien sollen ja alle Figuren in einem Traum und vermutlich alle Figuren in einem Bild auf den Träumer beziehungsweise den Maler hinweisen. Dann wäre diese Frau nicht eine Frau, die ihr Begehren ausdrückt, sondern ich selber. Und dieses Begehren wäre unerfüllt.
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Ende der Siebzigerjahre habe ich mal auf einer Kunstmesse den Düsseldorfer Kunsthändler Zimmer, der riesige Bilder der wilden Maler im Angebot hatte, gefragt, wo denn die Kunden diese Bilder aufhängen sollten, da sie doch vermutlich überall ihre Schrankwände aufgestellt hätten. Da erwiderte der ganz cool: „Die müssen ihre Schrankwände eben rausschmeißen.“
» Stephan Lackner erzählt genüßlich von einer Situation, wo ein Bild tatsächlich zu groß für das Zimmer war, dies aber zu einem unerwarteten Erlebnis führte, das nur unter diesen Umständen zu haben war.
Lackner hatte sich vertraglich verpflichtet, Beckmann monatlich zu unterstützen und bekam dafür Bilder. Beide lebten in extrem beschränkten Verhältnissen, das Zimmer von Lackner war so klein, dass er das große Bild gar nicht flach an die Wand bekam und die Flügel ankippen musste.
Das wiederum verschaffte ihm ein besonderes Vergnügen, denn er saß gewissermaßen mitten im Bild, ganz nah dran.
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Bei seiner Emigration in die USA musste Lackner alle Bilder zurückgelassen; sie wurden von einer ehemaligen Geliebten versteckt, wie er einmal in einem Fernsehinterview und seinen Errinerungen schildert. Nach Ende des Krieges konnte er sie glücklicherweise unversehrt in Empfang nehmen. Heute befindet sich das Triptychon in München (» Schnappschuss in München aus » Pinakothek der Moderne); ich habe es Mitte der Siebzigerjahre in Bremen gesehen, wo es viele Jahre als Leihgabe Lackners hing.
Noch ein Beispiel für ein extrem unwohnliches Kaminzimmer, in dem 172 zu einem absoluten Blickfang wird:
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Beim nächsten Ambiente habe ich mal ein bisschen tiefer in die Kiste gegriffen und auch Skulpturen aufgestellt:
Meine Bilder sind freilich stärker Toback für die Augen und ich kann es wohl verstehen, wenn so viele Bilder für jemanden zu viel ist. Allerdings gewöhnt man sich auch sehr schnell daran, der starke, fremde Eindruck weicht einem vertrauten. Auch Picasso schockiert heute niemanden mehr.
Ok, nun will ich nochmal sehen, was die Kollegen sagen: » Louvre-Probe. * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007
Da das Picasso Project seit spätestens 24.01.2011 gesperrt ist, führt ein direkter Link nicht mehr zum Ziel; daher bin ich gezwungen, die erwähnten Werke hier zu reproduzieren und berufe mich dabei auf » Fair Use bzw. das » Zitatrecht.
Rahmen wie hier gezeigt können bei » Kunstkopie, » artoko und anderswo erworben werden.