Diese Zeichnung ist fünf Tage später entstanden als die vorige und war die zweite vom selben Tage. Anscheinend habe ich viel aus dieser Produktion vernichtet, denn das erste Blatt dieses Tages beispielsweise ist heute nicht mehr auffindbar. Es ist ein Wunder, dass das Original einigermaßen unbeschädigt erhalten geblieben ist - Kohlezeichnungen sind extrem empfindlich. Irgendwann habe ich diese auf eine Holzspanplatte aufgezogen (vermutlich wenig fachgerecht) und mit einem zarten Naturholzrahmen versehen.
Manches an dieser Zeichnung ist virtuos angehaucht, beispielsweise das Hemd, und es wird deutlich, welche technischen Finessen ich hätte entwickeln können, wenn ich gewollt hätte; andere Partien zeugen von meiner Ängstlichkeit, die aus mangelnder Erfahrung resultiert - Kohle ist ja nun nicht gerade einfach zu handhaben. Soweit ich mich erinnern kann, ist dies die einzige Kohlezeichnung, die ich nach der Schulzeit angefertigt habe.
Natürlich hatte ich Respekt vor der Technik und mir schon damals in Berlin überlegt, mein Problem könnte vielleicht sein, dass ich die Kunst nicht studiert hatte. Da ich aber das Mathematikstudium nicht abbrechen wollte und auch nie ernsthaft daran dachte, mich an einer Kunstakademie einzuschreiben, stellt sich die Frage, ob ich überhaupt angenommen habe, man könne die Produktion von Kunst an einer solchen Einrichtung lernen. Vermutlich nicht. Außerdem wollte ich ja auch gar nicht Künstler werden.
Ich zog einen anderen Schluss aus meinem Dilemma: Vermutlich sei ich eher handwerklich begabt und sollte mich deshalb der Fotografie widmen, was ich dann ja auch drei Jahre lang getan habe. Aber die Fotografie war es auch nicht, wie ich durch diese Erfahrung feststellen konnte.
Im Grunde kann das nicht verwundern, denn noch vor 200 Jahren gehörte es zur bürgerlichen Grundbildung, vernünftig zeichnen zu können, es wurde von jedem erwartet. Selbstredend hat Goethe seine » Christiane gezeichnet. Man zeichnete genauso selbstverständlich wie man schrieb, las, sang oder musizierte. Heute verlangt man lediglich die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben, die aber von jedem, der nicht gerade hochgradig behindert ist. Das ist eindeutig ein Verlust an kulturtechnischen Leistungen, der nicht zuletzt dem Wandel in der Kunstauffassung durch die Moderne Kunst geschuldet ist.
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Die Nasenpartie ist in einem Frontalportrait besonders problematisch und mir hier recht gut gelungen, während die Schatten unter dem Kinn beziehungsweise die Kinnlinie etwas zu wünschen übrig lassen, jedenfalls auf der Reproduktion. Die Augenpartien sind etwas schwach, besonders die linke, aber vermutlich waren sie auch noch ganz jung und frisch, gar nicht zu vergleichen mit ihrem jetzigen Zustand, der zeichentechnisch vermutlich wenig Probleme bereiten würde.
Beeindruckend finde ich immer noch die Präsenz dieses Portraits, die neben den Augen vor allem dem Mund geschuldet ist. Der Blick ist wieder einmal bemerkenswert, und eine gewisse Traurigkeit ist spürbar. Je länger ich mir das Gesicht anschaue, desto mehr gefällt es mir (im Moment habe ich gerade die maximale Auflösung, ich sehe also nur einen Teil der Zeichnung, nur das Gesicht).
Dieser junge Mann schaut aus dem Spiegel heraus und weiß nicht, warum er überhaupt hineinschaut. Es mangelt ihm an Selbsterkenntnis, was er aber nicht weiß, und er weiß auch nicht, dass dies der Grund ist, weshalb er in den Spiegel schaut. Er möchte wissen, wer er ist. Aber immerhin spürt er, dass er auf diese Weise nicht weiterkommen wird. Es dauert allerdings noch eine Weile, bis ihm diese Erkenntnis dämmert. Für mehr als ein halbes Jahr stellte ich die Produktion ein und wandte mich wieder dem Studium der Kunstgeschichte zu. Die Erkenntnismöglichkeiten dieses Weges hatte ich anscheinend ausgeschöpft. * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007