Kommentar
Als ich mich zwecks Veröffentlichung im Internet mit diesem Bild beschäftigt habe, war ich überrascht, wie gut ich es fand. Als Intellektueller stehe ich mir dauernd im Wege. Immer und ewig muss ich beurteilen, statt mich einfach auf die Dinge einzulassen und mich daran zu erfreuen. Warum nur? Wenn ich Bilder anderer Maler sehe, lasse ich sie ja auch erst einmal auf mich wirken.
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Warum beeindruckt mich dieses Bild so? Es ist ja denkbar einfach. Ähnlich wie bei den Kugelschreiber-Zeichnungen (
› Nummer 41-46) kann man die Anzahl der Striche zählen, die ich hier gesetzt habe, und auch die Anzahl der Farben ist überschaubar.
Es wäre wahrscheinlich unmöglich, ein solches Bild zu wiederholen. Natürlich kann jeder jederzeit ein simples Gesicht zeichnen - das ist sogar ein beliebtes Kinderspiel:
„Punkt, Punkt, Komma, Strich - fertig ist das Mondgesicht.“ Und dennoch kann das Ergebnis in der Regel nicht besonders befriedigen.
Picasso hat sich in den fünfziger und sechziger Jahren oft an solchen einfachen Gesichtern versucht, auch mit Keramiken, aber wirklich große Kunstwerke sind dadurch kaum je entstanden. Die Gesichter sehen lustig aus, kindlich, aber leer, nichtssagend, während diesem Gesicht etwas Ergreifendes eignet. Das schaut einen jemand an, der
Mitleid mit einem hat. Dieses Schauen ist sehr intensiv, absolut ernsthaft und zielt direkt ins Herz. Wie ist das möglich?
Welche Rolle spielen dabei zusätzliche Einzelheiten, wie etwa die undeutliche Struktur in der schwarzen Fläche, die für den Oberkörper steht und vermutlich als Hand interpretiert wird? Wie wichtig sind die Spannungskurven, die Farbverteilung, das Gegengewicht durch die grauen Striche links? Das könnte man alles digital durchspielen. Und vermutlich wird dabei wieder herauskommen, dass man den Kern der Sache nicht trifft. Sehr merkwürdig.
Und wie macht sich das Bild an der Wand?
Dieses kleine Bild hält sich gut, auch ohne dicken Rahmen. Nun aber die Kollegen! Wie sieht's aus mit Rembrandt?
Das ist natürlich unfair, die besten Bilder Rembrandts gegen mein kleines, aber wenn schon Stresstest, dann richtig, dann muss man auch starke Partner suchen. Und so schlecht schlägt es sich nicht. Der besondere Ausdruck ist natürlich aus dieser Entfernung so gut nicht zu erkennen, aber das trifft auf die Rembrandts natürlich ebenfalls zu.
» Franz Marc ist da schon etwas leichter zu stemmen. Nicht, dass mein Bild durch die Gegenüberstellung besser würde, aber man sieht deutlich, wie schwach er eigentlich ist. Es war schon erstaunlich, wie wenige Bilder von ihm bekannt sind, wie viel Zeno von ihm aufführt, was kaum der Rede wert ist.
Nun bleibt mir also noch, meine These zu überprüfen, ob es tatsächlich die Augen und der Mund sind und nicht das Drumherum, wodurch der eigentümliche Ausdruck entsteht.
Dieses zweite Gesicht innerhalb des ersten spielt anscheinend keine große Rolle. Es wirkt als Einheit und Frontalgesicht.
Hier haben wir den Nachweis, dass eine Änderung an den Augen und am Mund zu einer erheblichen Änderung des Ausdrucks führt.
Der Schatten auf der Wange ist unerheblich. Es fällt kaum auf, wenn er fehlt.
Das gleiche betrifft die Pinselstriche im Hintergrund.
Und auch die Binnenzeichnung im „Körper“ tut nicht viel zur Sache.
Gleichermaßen kann man die „Haare“ vernachlässigen.
Schließlich kann man sogar ganz auf die Farbe verzichten.
Selbst erhebliche Verzerrungen können dem Bild nicht sehr viel anhaben. Allerdings habe ich dabei bemerkt, dass der Effekt, direkt angeschaut zu werden, ganz wesentlich ist, und der wird am deutlichsten in der großen Version. In der Verkleinerung hat man eher den Eindruck, dass das Männchen durch einen hindurchschaut.
Genauer gesagt ist es wohl so, dass der Blick den Betrachter trifft und
zugleich durch ihn hindurchgeht und damit auf etwas Transzendentes verweist - anders kann ich es nicht ausdrücken, auf etwas, das jenseits der Person des Betrachters ist. Der Typ hat ja nicht nur Mitleid, sondern deutet gleichzeitig an, worum es eigentlich geht und was das Leiden heilen könnte.
Ich glaube nicht, dass ich all das in dieses Bild hineininterpretiere; ich sehe und spüre es am deutlichsten, wenn ich mich ganz ohne Absicht dem Bild aussetze, einfach nur schaue und es wirken lasse.
Es ist also ganz klar die Zeichnung, die das Bild beherrscht, und keineswegs die Farbe. Die Farbe und der restliche Kleinkram sind der Zuckerguss, an dem das Auge Vergnügen hat. Die Seele lebt über die Zeichnung, wobei es die Augen und der Mund sind, die den Ausdruck prägen. Jede Änderung dort ändert den Ausdruck stärker als alle anderen Änderungen.
Es ist unglaublich, dass so etwas von ein paar Strichen erzeugt werden kann. Ich habe inzwischen das erwähnte Buch
» The Principles of Caricature von
» Ernst Gombrich und
» Ernst Kris bekommen; es ist eher ein Büchlein, kleinformatig mit nur 27 Seiten Text, die auch noch durch Illustrationen verziert sind; das müsste man in einer halben Stunde durchgelesen haben. Die Einleitung habe ich schon mal gelesen, sie ist unergiebig und feuilletonistisch. Ich fürchte, ich werde für meine Fragen, wie man mit Hilfe von Strichen Wunder vollbringen kann, auch in diesem Buch keine Antworten finden.
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Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung
aus dem Werkkatalog
» Stürenburg 2007 Rahmen wie hier gezeigt können bei
» Kunstkopie,
» artoko und anderswo erworben werden.