Kommentar
Wieder einmal mit Glatze und langen Haaren, diesmal aber etwas länger, allerdings recht konservativ angezogen mit Anzug, schräg zurückgelehnt bequem in einem Sessel sitzend, die Beine übereinander geschlagen.
Der Sessel ist nur angedeutet, die Hände sind übereinander gelegt untertänig kantig, wobei jedoch die haute Hände etwas realistischer ausgeführt ist als die Haut im Gesicht. Dieses ist mit wenigen Mitteln aus der ungrundierten Hartfaserplatte herausgearbeitet. Der Mann ist etwas bekümmert, aber ganz bei sich und gibt unbestimmt in die Ferne.
Ich weiß noch, wie überrascht ich war. Dieses Bild hielt ich für gelungen.
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Ich weiß sogar noch, dass es ein Donnerstag und Erika in Bielefeld zu ihrem Tanzkurs war (stimmt: Ich habe es eben nachgeprüft). Ich begann, als sie wegfuhr, und war fertig, als sie wiederkam. Es trägt die römische Ziffer II; wann ich das erste Bild des Tages gemacht habe, weiß ich nicht mehr.
Dieses Bild ist ja recht groß, nicht das erste in dieser Größe, aber immerhin von einem Ausmaß, wie ich es allenfalls aus Büchern oder Museen kannte. Auch dieses Bild habe ich nie aufgehängt. Die glaubhafte Sitzposition bei fehlenden Sesselbeinen fand ich überraschend und witzig. Der Mut zum Fragment hatte mich bei Picasso auch immer beeindruckt. Man muss wissen, wann man aufhören muss.
Die Art, wie der Typ im Sessel hängt, ist auch interessant. Ich habe ja nicht nach Modell gearbeitet und hatte auch sonst keine Vorlage. Da fällt mir eine Situation aus der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium ein. Das war 1954. Damals musste man noch Schulgeld bezahlen. Die Prüfung dauerte eine Woche lang. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es wirklich eine Art Prüfung war oder eher ein Probeunterricht, jedenfalls hat mich die Sache so mitgenommen, dass ich einen oder zwei Tage wegen Krankheit fehlte. Am Donnerstag (wieder ein Donnerstag!) war ich dann wieder in der Schule und wir hatten 2 Stunden Kunstunterricht, oder besser gesagt: Wir sollten etwas zeichnen und die Lehrer, die uns zu beurteilen hatten, wanderten umher und beobachteten uns bei der Bewältigung dieser Aufgabe.
Das Thema war: Mein Lieblingstier. Tja, was sollte ich da machen? Im Vorschulalter hatte ich viele Pferde gezeichnet, aber dann war mir die Lust durch den Unterricht ausgetrieben worden. Ich hätte gerne einen Hund gehabt, aber meine Mutter war strikt gegen Tiere. Sie war selber als Kind in der Landwirtschaft zum Hüten eingesetzt worden und hatte seither einen Hass auf Tiere.
So überließ ich mich einfach diese Aufgabe und zeichnete einen Dackel, der ganz ähnlich herumlag wie die Dackel in den Bildern
› Nummer 32 und
› Nummer 105, mit dem Unterschied, dass dieser Dackel nicht allein war: Es war nämlich eine Hündin mit einem ganzen Wurf, fünf oder sechs Welpen. Das ganze mit Bleistift, schön plastisch gearbeitet, so beeindruckend, dass einer der Lehrer, die ansonsten nur beobachteten, mich von hinten ansprach: „Ihr habt wohl einen Dackel zu Hause?“ Nein, hatten wir nicht. Und ich bezweifle auch, ob ich schon jemals Welpen gesehen hatte.
Wie konnte es möglich sein, dass ich aus der Vorstellung und aus dem Stand eine solche Szene zu Papier brachte? Leider ist mir diese Zeichnung nicht ausgehändigt worden, und ich bezweifle, dass die Unterlagen der Aufnahmeprüfung 1954 heute noch existieren. Es wäre interessant, das Blatt mit meinen Erinnerungen zu vergleichen. Im Prinzip ist es dasselbe wie bei diesen jungen Mann: Wie ist es möglich, dass ich den so überzeugend hinsetzen konnte?
Ein erster Versuch; das mag wohl gehen, aber vielleicht geht es noch besser.
Das ist jetzt ganz schlicht, aber vielleicht ein bisschen erdrückend.
Dieser Rahmen ist im Prinzip schön, aber viel zu mächtig, zumindest für dieses Zimmer.
Interessant, der Rahmen wirkt trotz seiner Schnörkel nicht übermäßig überladen. Und jedes der beiden Bilder wird unterstützt.
Nun noch einmal ganz schlicht, geht auch.
Zweifellos habe ich dieses Bild ebenfalls als Selbstportrait begriffen. Als junger Mann bin ich schon dann schön gealtert, was vor allen Dingen durch den stumpfen Gesichtsausdruck deutlich wird. Die schütteren Haare spielen eigentlich keine Rolle. Dieser junge Mann ist irgendwie in einer Sackgasse, es mangelt ihm an Energie und Perspektive. Zweifellos sind es die Grundfragen des Lebens, wie ihn bewegen, nicht konkrete, banale Schwierigkeiten. Dieser junge Mann hat keinen Liebeskummer, keine Existenzangst, er ist eher depressiv, ganz dumpf antriebsarm, man möchte meinen, sein Kopf fühle sich an wie in Watte verpackt, als sei die Welt grau und hoffnungslos.
Der Vergleich bestätigt diese Sichtweise:
In
31 blickt uns ein vergleichsweise entschlossener junger Mann entgegen, ehrgeizig, energiegeladen, während der in
115 einfach nur ausgebrannt ist. Ja, ausgebrannt war ich wohl auch. Die Arbeit an der Dissertation war sehr anstrengend und über lange Zeit ergebnislos, also absolut frustrierend. Irgendwann habe ich dann kurz vor Ende meiner Stipendiumsfrist doch noch den Durchbruch erzielt; wann das genau war, kann ich nicht mehr rekonstruieren. Auf jeden Fall war ich zu Ostern 1974 mit der Niederschrift fertig und reichte die Arbeit ein. Das weiß ich deshalb so genau, weil mein Doktorvater
» Andreas Dress nicht zu erreichen war und am Ende der Osterferien wütend war, dass sich die Arbeit ohne Rücksprache mit ihm abgegeben hatte. Außerdem entdeckte er einen Fehler, was seinen Ärger natürlich nur noch vergrößerte.
Dank Internet ist es kein Problem, das Datum des Osterfestes 1974 herauszufinden: Es war der 14. April. Das Bild ist am 28. Februar entstanden, sechs Wochen vor Ostern. Es erscheint unwahrscheinlich, dass ich zu diesem Zeitpunkt immer noch ohne Ergebnis war, aber ausgeschlossen ist es nicht. Ich habe irgendwann eine andere Strategie eingeschlagen, etwas herausgefunden und dies meinem Betreuer
» Andreas Dress vorgetragen. Der war der Meinung, dass dies Ergebnis für die Promotion reichen würde. Ich sollte es aufschreiben und einreichen. Das kann eigentlich nicht allzu lange gedauert haben. Möglich, dass dieses Bild gerade kurz vor dem Durchbruch in meiner größten Verzweiflung entstanden ist.
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Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung
aus dem Werkkatalog
» Stürenburg 2007 Rahmen wie hier gezeigt können bei
» Kunstkopie,
» artoko und anderswo erworben werden.