In meiner Krise erinnerte ich mich endlich an mein Selbststudium der Fotografie. Schließlich war ich nicht der erste, der ein gutes Foto machen wollte, und ich war schon gar nicht der erste, der ein gutes Gemälde malen wollte. Also studierte ich die Kunstgeschichte, so wie ich die Fotografiegeschichte studiert hatte: Ich lieh mir Bücher aus öffentlichen Bibliotheken und betrachtete die Bilder, ließ sie auf mich wirken, versuchte zu verspüren, was daran gut war und warum und ließ die Texte weitgehend außer acht.
Ich erinnere mich noch an Herzrasen, als ich einmal nicht schlafen konnte und mitten in der Nacht wieder aufstand, ein Buch in die Hand nahm und ein Bild von » Jackson Pollock betrachtete. Das war eine starke körperliche Reaktion, sehr merkwürdig. So etwas habe ich nie wieder erlebt. War das dieser Ausnahmesituation geschuldet?
Schließlich stieß ich auf fünf barocke Gemälde unterschiedlicher Maler zu demselben Thema: Madonna mit Jesuskind, dargestellt auf einer Doppelseite. Selbstverständlich waren das alles Meisterwerke, sonst hätte man sie gar nicht erst abgebildet. Merkwürdigerweise schien mir evident, dass eines dieser Meisterwerke wirklich gut zu sein schien, wesentlich besser als die anderen vier. Woran konnte das liegen?
Nach einer Weile kam mir eine Ahnung. Alle fünf Bilder waren mit Meisterschaft gemalt, eines jedoch mit Herzblut.
Ach du lieber! Was sollte das denn heißen? War ich nicht ein Kind der Moderne, aufgeklärt, abgeklärt, agnostisch? Es half aber nichts. Besser konnte ich es nicht erklären. Wenn dem aber so war, dass der Künstler seinen Teil dazugeben musste, was wäre es denn, was ich zu geben hätte? Was war mir wichtig?
Auf diese Frage konnte ich keine Antwort geben, obwohl ich das von mir erwartet hätte. Das war ein Schock, der mich mehrere Wochen belastete. Ich wusste nicht, was mir wichtig war! Und das in diesem Alter! Schließlich war ich schon 24 Jahre alt! Endlich meldete sich nach etwa einer Woche eine Idee. Hatte ich nicht immer einen doppeläugige Spiegelreflex besitzen wollen, um vernünftige Selbstportraits machen zu können?
|
Hier erscheint erstmals die Signatur joe, die damals durchaus nahelag. Schließlich war ich als Student allgemein so bekannt. Anscheinend hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt auch schon ausgiebig mit Picasso beschäftigt, von dem ich die Gewohnheit übernahm, alle Werke zu datieren, und gegebenenfalls zu nummerieren. Dies ist das zweite Blatt vom Tage, wie die römische Ziffer zeigt.
Es gefällt mir nach wie vor sehr gut. An manchen Stellen wirkt es ein bisschen verkrampft, an anderen ist es aber wieder sehr locker. Die Farbe sagt noch sehr wenig, doch die Intensität des Ausdrucks ist erstaunlich. Der junge Mann ist offen, unerschrocken, zuversichtlich, neugierig. Er ist nackt - soweit ich mich erinnere, habe ich mich allerdings nicht ausgezogen. Der Unterkiefer ist korrigiert, aber das stört nicht.
Im Nachhinein fand ich es sehr interessant, dass ich den Kugelschreiber gewählt hatte. Damit war eine Korrektur völlig ausgeschlossen. Jeder Strich musste auf Anhieb sitzen. Keine Ahnung, warum ich das wollte. Als Kunsterzieher habe ich diesen Kniff später öfters eingesetzt, um die Blockade der Schüler zu überwinden, die im Bewusstsein der späteren Korrigierbarkeit nicht etwa freier arbeiten, sondern gehemmter, und beim Zeichnen schon an das Radieren denken. Wenn aber jeder Strich sitzen muss, muss man sich wohl oder übel ein Herz nehmen und ins tiefe Wasser springen.
Dies war ein Schritt in die richtige Richtung. Es blieb nicht bei einem Selbstportrait. Einige weitere sind ins Werkverzeichnis aufgenommen worden. Was das mit der Kunst zu tun hatte und mit dem, was mir wichtig war, wurde mir dadurch allerdings nicht klar. * * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007