Vor ihm steht ein glatzköpfiger Kleinwüchsiger mit Hut und verschränkten Armen; pardon: im Märchen muss es natürlich Zwerg heißen. An der linken Wand das Gemälde eines Vorfahren, der einen Spieß hält und wohl auch noch mit einem großen Schwert bewaffnet ist, das bis an den Bilderrahmen stößt.
Der Zwerg steht so unglücklich, dass das Schwert aus seiner Nase zu kommen scheint. An der anderen Wand ein romantischer Durchbruch mit Blick auf eine Wiese mit einem Baum und einer schwarz-bunten Kuh, die eine Glocke um den Hals trägt.
Der Prinz trägt einen feinen Schnurrbart, einen großen Hut und eine schwere Kette mit einem Medaillon. Der Bauch wird von einem Gürtel mit einer großen Schnalle gehalten, die ebenfalls von einem Medaillon geziert wird. Das obere zeigt einen Kopf, das untere zwei, die sich gegenseitig anschauen.
Man denke sich meine Verblüffung! Das ist doch allenfalls eine Kinderbuch-Illustration, oder? *
Hier habe ich - bewusst oder nicht - wieder auf einen Trick zurückgegriffen. Tusche kann man nicht korrigieren. Jeder Strich muss sitzen. Man kann nicht zögern, man muss sich ein Herz fassen und sich darauf verlassen, dass es schon wird. Entweder man muss das Blatt wegwerfen oder es hält stand.
Hier hatte ich anscheinend das Gefühl, das Blatt nicht wegwerfen zu sollen. Mit diesem Wechsel der Technik versuchte ich wohl, meiner Materialknappheit zu entgehen und gleichzeitig die Frage der Themenfindung voranzutreiben. Was sollte ich malen? Was konnte Bestand haben? Was sollte Kunst sein?
Dieses Blatt ließ mich ratlos zurück. Noch heute kann ich wenig dazu sagen. Die auffälligste Partie ist natürlich die Zeigegeste: Zeigt der Finger nun auf den Mund oder auf das Gesicht? Wenn ich auf mich selbst zeige und mich selbst meine, wohin zeige ich dann? Auf die Stirn, auf den Mund, auf das Herz?
Der Mund ist übrigens die einzige Stelle, die etwas unklar ist. Direkt vor dem Mund schwebt eine schwarze Form. Es scheint sich nicht um einen Teil des Mundes zu handeln. Der Zeigefinger weist direkt daraufhin. Was ist das?
Nehmen wir einmal an, die Geste solle heißen: Wer bin ich? Diese Frage stellt sich natürlich jedem Menschen, insbesondere aber jemandem, dessen Stammbaum Hunderte von Jahren dokumentiert ist. So einer kann sich nur als ein Glied in einer Kette begreifen, der muss sich, ob er will oder nicht, mit seinen Vorfahren vergleichen und sich selbst als Glied in dieser Kette ansehen, die zweifellos, wenn er selbst nicht der Fortpflanzung ein Ende setzt, sich weiter in unbestimmte Zukunft fortsetzen wird.
Selbstverständlich sind auch alle anderen, deren familiäre Tradition sich nicht auf mehr als zwei Generationen erstreckt, Glieder einer solchen Kette, aber sie sind nicht durch diese Vergangenheit belastet. Ja schon ein Nachkomme, der beruflich völlig andere Wege beschreitet als seine Eltern, betritt Neuland und erfindet sich selbst neu, ist nicht durch die Erfahrung und die Geschichte seiner Eltern belastet. Umgekehrt ist jemand gebunden, der den Betrieb seiner Eltern oder deren berufliche Ausrichtung übernimmt. So gibt es beispielsweise Dynastien von Musikern, Lehrern, Handwerkern, wobei natürlich auch die Bauern nicht vergessen werden dürfen.
Auch bei den Künstlern gibt es so etwas, und die Frage, wieweit etwa Picasso durch seinen Vater gefördert oder belastet worden ist, ist immer wieder diskutiert worden. » Leonardo ist ein Beispiel für einen Künstler, der sich selbst neu erfunden hat - sein Vater war Notar. Anfang 1974 war ich nicht nur künstlerisch in einer Krise; die Arbeit an meiner Dissertation hatte sich als sehr schwierig und zäh erwiesen, und das Ende des Stipendiums kam in Sicht, aber ein Ergebnis lag noch nicht vor.
Mein Vater war Buchdrucker, mein Großvater väterlicherseits Schweizer Degen, das heißt Buchdrucker und Setzer zugleich, mein Großvater mütterlicherseits war gelernter Schuster, der als Geselle noch auf Wanderschaft gegangen war, wegen der dann aufkommenden Schuhfabriken aber sein Leben lang unter Tage als Bergmann gearbeitet hatte und im Nebenberuf Bauer war, da er in einem kleinen Betrieb eingeheiratet hatte.
Über meinen Urgroßvater mütterlicherseits weiß ich nichts; mein Urgroßvater väterlicherseits war Waldarbeiter in gräflichen Diensten. In der ganzen Verwandtschaft war ich der erste, der eine höhere Schulbildung genossen hatte, einen Universitätsabschluss besaß und nun auch noch einen Doktor machen wollte. Auch in der persönlichen Bekanntschaft gab es niemanden, der mit irgendeiner höheren Bildung aufwarten konnte. Ich bewegte mich in Kreisen, die für mein Herkommen fremd waren. Als ich dann schließlich meinen Doktor hatte, fragte meine Cousine mich (scherzhaft), ob ich denn noch mit ihnen reden wollte.
So gesehen könnte dieses Bild die Frage nach mir selbst, meiner Herkunft und Zukunft stellen. Selbstverständlich ist jeder von uns einzigartig, aber dennoch sind wir alle durch unsere Herkunft gebunden. Niemand ist eine Insel. Niemand schüttelt seine Vergangenheit ab. Jeder muss seine Zukunft gestalten. Was war meine Zukunft? War ich ein Mathematiker? Bis dahin hatte ich einigermaßen Erfolg gehabt. Die Doktorarbeit sollte zeigen, ob meine Zukunft in der Mathematik liegt, in der mathematischen Forschung, die üblicherweise an den Universitäten erbracht wird. Als Plan B, der ursprünglich mein Plan A gewesen war, hatte ich den Lehrerberuf ins Auge gefasst. Was die Lehrer am Gymnasium taten, hatte ich neun Jahre lang beobachten können - das traute ich mir zu.
Diese Deutung scheint mir plausibel. Das Blatt ist natürlich extrem spröde und besitzt so gut wie gar keine Fernwirkung. Der Rahmen ist hier die Einladung, doch näher zu treten, um sich die Zeichnung genauer anschauen zu können.
Es ist aber wohl nicht die Ausweglosigkeit, die den Prinzen so bestürzt reagieren lässt; möglicherweise sieht er es sogar selber ein, dass er um diese Frage nicht herumkommt. Warum ist sie nur so unangenehm? Das Medaillon an der Kette zeigt nur einen Kopf, dass ein Gürtel zwei, die einander so dicht gegenüberstehen, dass sich die Nasen beinahe berühren. Die Zeichnung liegt mir im Moment nicht vor; anhand der Reproduktion kann ich nicht genug erkennen, um Genaueres sagen zu können.
Nicht nur in der modernen Psychologie arbeitet man mit Modellen, bei denen Persönlichkeitsanteile wie Personen in einem Theaterstück aufgefasst werden, die miteinander agieren; schon in der » Bhagavad Gita werden äußere Konflikte geschildert, die als innere Konflikte gelesen werden wollen.
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In diesem Sinne könnte der Zwerg die Rolle von Krishna übernehmen, der Prinz die von Arjuna, der sich vor der Aufgabe drücken möchte und von Krishna belehrt wird, dass er das weder darf noch kann und sich dem Kampf stellen muss.
Das klingt gut, plausibel und interessant und würde die Zeichnung in die Nähe einer Illustration rücken; dieser Ansatz würde auch den Ernst der Zeichnung erklären, der so gar nichts Kindliches und Kinderbuchmäßiges an sich hat, aber damals hatte ich von der Bhagavad Gita noch nie gehört, und auch die Deutung des Geschehens als inneres Drama ist mir erst vor ein paar Jahren durch die Übersetzung » Yoganandas erstmals bekanntgeworden.
Wenn diese Interpretation stimmig wäre, bleiben trotzdem zwei Fragen offen: Wie komme ich dazu, so etwas zu zeichnen, mit anderen Worten: woher weiß ich das? Und warum habe ich die Zeichnung damals nicht in diesem Sinne verstanden?
Bei der letzten Frage könnte man unterstellen, dass Bilder auf jeden Fall wirken, ob man sie versteht oder nicht, genauso wie man unterstellt, dass Träume wirken, auch wenn man sie nicht analysiert und sich nicht einmal an sie erinnert. Bei der ersten Frage ist man natürlich geneigt anzunehmen, dass irgendwo eine höhere Kraft wirksam ist.
Das hat mich an » C.G. Jung fasziniert, mit dem ich mich kurze Zeit später, nach der Bekanntschaft mit » Erich Engelbrecht, beschäftigt habe: Seine überzeugenden Berichte von Kräften, die er außerhalb seiner selbst verortete, über die er allerdings wenig Substantielles zu sagen hatte. Seine » Archetypen-Lehre ist ja lediglich Spekulation. * Der vorstehende Kommentar ist die Anmerkung aus dem Werkkatalog » Stürenburg 2007